Höchstens ein Skandälchen! Thor Kunkel liest aus „Endstufe” (Friederike Haupt)

Donnerstag, 6. Mai 2004, 21 Uhr
Moritzbastei
Thor Kunkel liest aus seinem Roman Endstufe


Achtung, Provokation – bitte aufregen!

Thor Kunkels Buch Endstufe ist ein Westentaschen-Skandal

Manchen Leuten sollte man mal ein Buch schenken. Nämlich den Leuten, die in Thor Kunkels 2004 erschienenem Buch Endstufe einen Skandal sehen. Ihnen sollte man ein wirklich gewagtes Stück Literatur (zum Beispiel Louis-Ferdinand Célines Reise ans Ende der Nacht) schenken, warten, bis sie es gelesen haben, fragen, ob sie Kunkels Buch immer noch als Skandal bezeichnen würden, und sich freuen, wenn sie verneinen. An die, die bei ihrer Meinung blieben, möchte man gar nicht denken. Tatsächlich wird der Begriff „Skandal“ heutzutage genauso verwendet wie beispielsweise der Begriff „Superstar“: inflationär und meist zu Unrecht nämlich.

Kunkels neuer, dritter Roman wird als Skandalbuch gehandelt. Es geht darin – vordergründig – um den Handel mit Pornofilmen während des Zweiten Weltkriegs; Top-Skandalthemen, keine Frage, da lässt sich was draus machen. Der Autor, Jahrgang 1963, hat einen 600-Seiten-Roman daraus gemacht, so brisant offenbar, dass seine Lektorin bei Rowohlt sich weigerte, ihn in dieser Form zu verlegen; also wurde zu Eichborn gewechselt, Endstufe erschien und die Presse rief den Skandal aus. Als Nichtkenner des Buches ging man dann auch mit dementsprechend hohen Erwartungen zur Lesung in der Leipziger Moritzbastei.

Während der etwa zweistündigen Veranstaltung aber wird klar: Das Buch und sein Schreiber, übrigens Preisträger beim Bachmann-Literaturwettbewerb 1999, sind bestenfalls unterhaltsam, aber nicht besonders originell und vor allem nicht skandalös. Kunkel liest etwa neunzig Minuten aus seinem Buch, anschließend wird eine halbe Stunde recht interessiert diskutiert, gefragt und geantwortet, und anschließend gehen alle zufrieden nach Hause. Keine Zwischenrufe, keine vorzeitigen Aufbrüche, keine wirklichen bohrenden Fragen – womit hat dieses Buch eigentlich die öffentliche Aufmerksamkeit verdient, die ihm zuteil wurde? Die für die Lesung ausgewählten Textstellen machen das nicht wirklich deutlich.

Da geht zunächst Protagonist Dr. Karl Fußmann, Chemiker am SS-Hygiene-Institut, mit seiner Verlobten Johanna zu einer Modenschau, lässt sich über das Hochgefühl aus, das ihn beim Tragen seiner SS-Uniform erfüllt, und deutet schon mal dezent an, wo seine wirklichen Interessen liegen: „Das Eva-Kostüm ist mir immer noch am liebsten.“ Dann, Szenenwechsel, erlebt man den Kameramann Holsten und die Prostituierte Lotte bei diversen sadomasochistischen Aktivitäten, en detail geschildert natürlich und mit möglichst trashigen Einzelheiten, wie etwa Lottes „Sieg Geil“-Tätowierung, angereichert. Man darf als Hörer respektive Leser zugegen sein beim Pornofilmchendreh und bei den zynischen Gesprächen der Nazis, und es wurde in den Feuilletons bereits ausgiebig darüber diskutiert, was man davon zu halten hat: von Schundliteratur, Stammtischniveau, ideologisch Skandalösem, Auschwitzleugnung etc. war die Rede. Dabei bräuchte man sich nicht aufzuregen. Was die sexuellen Perversionen den Figuren und die in lapidarem Tonfall geschilderten Obszönitäten betrifft, so ist Kunkel bei weitem nicht der erste, der sich dieses Stils bedient. Nur weil in regelmäßigen Abständen „Dann trieben wir’s da-und-da und so-und-so und es war natürlich extrem geil/schmerzhaft/langweilig“-Sequenzen eingestreut werden und sogenannte böse Wörter vorkommen, besteht kein Grund zur Ereiferung; bei einem Buch, das genüsslich das Porno-Business schildert, muss man auf so etwas gefasst sein – und wenn es den persönlichen Geschmack beleidigt, darf man sich auf der guten Seite wissen und ruhigen Gewissens die „Schund“-Schublade aufmachen. Skandalös jedenfalls ist das nicht.

Was den historischen Rahmen der Handlung angeht, ist davon auszugehen, dass Kunkel diesen mit Bedacht gewählt hat. Gegen die Moralkeule habe er schreiben wollen, so der Autor im Nachgespräch, denn die political correctness hierzulande sei museal und sein Roman bewusst ein Gegenstück zur Konformität. Oft werde ihm vorgeworfen, er verleugne den Holocaust, nur weil dieser nicht das Thema des Buchs sei; dabei müsse es doch möglich sein, eine Geschichte in der Zeit zwischen 1941 und 1945 anzusiedeln, in deren Handlung eben nicht der Holocaust im Vordergrund steht. Damit hat Kunkel recht; schwieriger wird es schon bei der Frage nach dem wirklichen Thema von Endstufe. Dem Autor zufolge geht es nämlich darum, dass die Menschen während des Nationalsozialismus funktionierten wie die Akteure in Pornofilmen – ohne Moral und Gewissen, ohne Nachdenken und Reflexion. In einem Brief an seine Verlobte schildert der Protagonist Fußmann 1946, wohin das führen wird: die NS-Zeit sei nur eine Zwischenstufe auf dem Weg zum „Massenmensch“, der sich aufgrund von Genmanipulation und moralischer Degeneration entwickeln werde. Er, Fußmann, betrachte sich als Teil einer Entwicklung, die in der Zukunft das Ende der freien Welt bedeute. Was bedeuten würde, dass das „Dritte Reich“ nur eine Zwischenstufe war – provokant!

Dabei wird übersehen, dass Fußmann nicht Kunkel und diese radikale Ansicht nicht mit der des Autors identisch ist. Abgesehen davon ist die Grundidee nicht neu und schon aufregender umgesetzt worden. Bereits in Michel Houellebecqs 1998 erschienenem Roman Elementarteilchen geht es um das „Ende der alten Ordnung“; individuelle Freiheit und Menschenwürde werden vom Fortschritt überholt, der Einzelne wird zum Instrument der Allgemeinheit und die Zukunft zur Endstufe einer naturwissenschaftlich gesteuerten Entwicklung. Unterschied zu Kunkel: Houellebecq konnte auf zusätzliche Aufreger verzichten, sein eigentliches Thema war Skandal genug.
Thor Kunkel zu unterstellen, dass er nur aus Gründen der Medienwirksamkeit das Thema Nationalsozialismus in seinem Buch aufgreift, ist übertrieben; es wird ihm schon ernst sein mit seinen systemkritischen Tiraden – nicht umsonst beschwert er sich nach der Lesung ausführlich darüber, dass er seit einem Jahr vergeblich versuche, einen Text über die Gründe, aus denen die Bundesrepublik das Klonen verbietet, aber Stammzellen aus Israel importiert, in der F.A.Z. zu plazieren.

Kunkels Buch Endstufe aber Skandalstatus zuzusprechen, ist ebenfalls übertrieben und ungerecht gegenüber all den anderen Autoren, die es versäumt haben, ihre mittelmäßigen Ideen in einen hinreichend und offensichtlich provokanten Kontext zu stellen.

(Friederike Haupt)

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