Wer schon mal im Glashaus saß, wird nicht mit Steinen werfen

Peter Konwitschny inszeniert Luigi Nono in Hannover

Das Stück lässt sich verstehen als Luigi Nono´s Versuch, eine Art Bilanz der Arbeiterbewegung zu ziehen. Als bekennender Kommunist verarbeitet er in dem 1975 uraufgeführten Werk das Scheitern und die Verirrungen der kommunistischen Bewegung mit Beginn der Pariser Kommunarden. Dabei geht es nicht um Erklärung und Rechtfertigung; es werden keine Steine geworfen. Nonos Blick ist nach innen gerichtet. Er stellt einen Zusammenhang zwischen den in seinen Augen ursprünglichsten Bestrebungen nach Menschlichkeit und Liebe – im künstlerischen Sinne nach Schönheit – her.

Peter Konwitschny verfolgt diese vorgezeichnete Richtung. Im ersten Teil stellt er ein Glashaus auf der Bühne. Zwei Mädchen tollen darin herum. Man vertreibt sich die Zeit mit den Lieblingsteddys und überschreibt das Geschehen mit zwei Zitaten: „Die Schönheit setzt sich der Revolution nicht entgegen“ (Che Guevara, 1953) und „Für dieses weite hilfsbereite Herz – trunken von Solidarität – ist die einzig atembare Luft die Menschenliebe“ (Louise Michel, 1871).

Das Libretto besteht fast ausschließlich aus Aussagen von Revolutionären, außerdem wird aus den Werken von Rimbaud, aus denen auch der Titel stammt, Pavese, Marx, Brecht und anderen zitiert. Eine szenische Handlung hat Nono nicht vorgegeben.

Der erste Teil liest sich wie Geschichtsunterricht. Die politischen Konflikte um die Pariser Kommunarden, um Kuba, um Bolivien, um die Sowjetunion spiegeln sich in der Darstellung der Protagonistinnen: Louise Michel, Tanja Bunke, Brechts „Mutter“, Paveses „Deola“. Das Scheitern als poetische Dimension, die Erinnerung gegen das Vergessen gewandt, wirkt als starkes ästhetisches Moment wie in einem Requiem: „Kommen wir vergeblich zum Leben, zum Blühen auf die Erde? Vielleicht vergeblich ?“ (Tanja Bunke, 1967). Das erinnert an Brahms‘ „Denn alles Fleisch ist wie Gras und alle Herrlichkeit des Menschen wie des Grases Blumen. Das Gras ist verdorret und die Blume abgefallen.“ Der zweite Teil ist bei Nono dann dramatischer. Die Unterdrückung revolutionärer Ideen wird gezeigt als physische Erfahrung im Angesicht von Angst und Tod.

Peter Konwitschny und sein langjähriger Partner Helmut Brade haben zu Nonos szenischer Aktion szenische Handlungen erfunden. Die Zitate werden in konkrete Bilder übersetzt. Dramaturgisch ist das überzeugend. Im Zusammenwirken mit der assoziationsreichen Musik zeigen die vielsagenden Bilder die Tendenz, den von Nono konzipierten offenen Dialog mit den Zuschauern unterbrechen, wie etwa der fiktive Kaffeeklatsch der Louise Michel mit Tanja Bunke im Totenreich. Aber das ist nur die andere Seite der wirklich bewundernswert frischen Haltung des Regisseurs, sich bei der Beschäftigung mit politisch engagierter Musik nicht in Beliebigkeiten zu flüchten. Das Ensemble folgt Konwitschny leidenschaftlich. Das gilt sowohl für den großen und kleinen Chor in den dynamischen Massenszenen als auch für jene konzentrierte Betrachtung der agierenden Solisten. Mit Verve werden intelligente Spielideen individuell weitergedacht, wenn etwa Lenin dirigierend eine Geschichtslektion erteilt und der Chor dabei spannungsgeladen lauscht.

Die Rollen sind mehrfach besetzt, musikalisch dominieren die vier Soprane in den Hauptrollen. Die Struktur setzt auf Gegensätze: die menschliche Stimmen gegen mechanisches Stampfen des Orchesters, unbegeleitete Soli gegen grummelnde Tonbandeinspielungen, exzessiver Schlagzeugeinsatz gegen lyrische Stimmen. Zusammengehalten wird das Stück durch sich jeweils viermal wiederholende Zwischenstücke. Im puren Orchesterklang öffnet sich dann ein Raum für auch unreflektiertes Zuhören.

Nonos inhaltliche Konzentration auf die Frauen, musikalisch in den Sopranen, tritt in der Aufführung in Hannover hinter seinen allgemeinen ethischen Ansatz zurück. Die szenischen Strukturen werden nicht durch Personen dominiert. Im Mittelpunkt steht der Kosmos des Menschseins und das unmissverständliche Werben um Achtung für geschichtliche Leistungen und Irrungen.

Luigi Nono: „Unter der großen Sonne mit Liebe beladen“

Szenische Aktion in zwei Teilen – Text von Luigi Nono

Musikalische Leitung: Johannes Harneit
Regie: Peter Konwitschny
Bühne und Kostüme: Helmut Brade
Dramaturgie: Albrecht Puhlmann
Licht: Susanne Reinhardt
Ton: Martin Urrigshardt
Großer Chor: Clemens Heil
Kleiner Chor: Stefan Schreiber

13. 5. 04, 19.30 Uhr, Staatsoper Hannover


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