Nächtliche Ent- und Verrückungen

Bachfest 2004: Ein nächtliches Konzert mit Vater und Sohn in der Thomaskirche

Ein Tag mit Bach nähert sich dem Ende. Nachtkonzert in der Thomaskirche. Keine Massenveranstaltung; ein kleiner Kreis hat sich im Saal eingefunden, um der Motettenkunst Carl Philipp Emanuel Bachs zu begegnen. Mit den ersten Tönen wird die sängerische Perfektion des Gesualdo Consort greifbar. Glockenhelle Stimmen, jede einzelne wunderschön und brillant – und jeder der Musiker hat zwei Ohren, die auch den anderen lauschen. So entsteht ein himmlischer Kammerchorklang unter der unauffälligen, doch bestimmten Leitung Harry van der Kamps.

Fast eine Stunde kann man sich an daran erfreuen, mit welcher Meisterschaft Carl Philipp Emanuel mit drei, vier, sechs und acht Stimmen umgeht. Satzkunst, die ihresgleichen sucht und sich im steten Dialog mit den Textvorlagen befindet – manchmal musikalisch ausdeutend, manchmal sich entfernend, sich mit den Worten aus der Distanz auseinandersetzend. Zentrales Stück: Die „Neue Litanei“. Sie ist von unfassbarer Länge, vom Ausmaße einer mittleren Mozart-Sinfonie. Der zart-fromme Text, die getragene, dabei schlichte Vertonung – ist es himmlisch oder nur nervtötend?

Ein sonderliches Werk, das aber nächtens in der Kirche eine gleichsam hypnotische Wirkung entfaltet. Die Lider werden schwer und im Traumgesicht sitzen C. P. E. und Morton Feldman im Musikerhimmel und sind sich über maßlose Proportionen überraschend einig. Ist es wirklich schon so spät, Gerd?“, zischt die Dame hinter mir und stößt ihren Mann kraft Ellbogen aus dem Schlaf. Gerd hatte sich zu einem Nickerchen zurückgelehnt und ich kann es Gerd nicht verdenken.

Zum Schluss noch eine ausufernde Vokalfuge von Vater Bach – wieder in getragenen Notenwerten. Manch einer wird unruhig, manch einer gleitet in die Trance hinüber. Kurz bevor die Aufmerksamkeit des gutwilligsten Hörers verlöscht, reißt die Fuge ab – sie ist Fragment geblieben und van der Kamp hat sie in diesem Zustand belassen. Kein Fortissimo, keine Stretta hätte den Schockeffekt des Nichts, des bloßen Abreißens evozieren können. Die Stimmen verschwinden mit einemmal in der Nacht und sehr, sehr wach und lautstark feiern wir van der Kamp und sein Ensemble. In feierlicher Stille geht es in die Nacht hinaus, mit einer sehr genauen Vorstellung davon, was es heißt, entrückt zu sein.

Bachfest: Nachtkonzert

Werke von C. Ph. E. Bach und J. S. BachGesualdo Consort Amsterdam
Harry van der Kamp, Leitung

15.05.2004, Thomaskirche

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