Intermezzo beim Bachfest mit der Oper „Ascanio” von Antonio Lotti
Der äußere Aufführungsrahmen zur Oper „Ascanio“ von Antonio Lotti präsentierte sich dem Zuschauer im Leipziger Schauspielhaus in dieser Weise: schwarz ausgeschlagen die Bühne, bordeauxrot der Bühnenboden, darauf nur wenige Versatzstücke, von den Akteuren selbst in die verlangte Position geschoben, sparsam eingesetzt die Lichtregie, vor der Bühnenrampe die 16 Musiker der Batzdorfer Hofkapelle mit ihren teils barocken Instrumenten wie der Laute, der Theorbe und dem Cembalo.
Wenn man will, stellte diese Aufführung im Rahmen der vielen Bachkonzerte zum Bachfest Leipzig 2004 insofern eine Quasi-Unterbrechung dar, da sich kein direkter Bezug zwischen der Kunst Lottis und der von Bach herstellen lässt, es sei denn, dass beide Tonschöpfer als Zeitgenossen auf sächsischem Terrain gesehen werden, was natürlich für allseitig Interessierte durchaus zu Buche schlug, denn das Theater war bis auf den letzten Platz gefüllt.
Antonio Lotti, geboren 1666 in Venedig, dort 10 Jahre vor Bach gestorben, wirkte von 1717 bis 1719 als Operndirektor und Leiter einer von ihm gegründeten Kapelle in Dresden, genau zu der Zeit also, in der Bach der Berufung zum Hofkapellmeister des Fürsten Leopold von Anhalt-Köthen nachkam. Am sächsischen Hofe erhielt Lotti den Auftrag, für die Prunkfeste im Vorfeld der Hochzeit des Thronfolgers, des späteren Friedrich August II. Kurfürst von Sachsen und der Prinzessin Maria Josepha von Habsburg, drei Opern zu komponieren, deren Erlesenheit das Haus Wettin in schönstem Glanze erstrahlen lassen sollte. So eröffnete der Venezianer den Opernreigen mit einem unterhaltsamen Schäferspiel („Giove in Argo“, 1717), dem das Bühnenwerk „Gl´odi delusa dal sangue“ folgte, nach dem Titelhelden auch „Ascanio“ genannt (uraufgeführt am 10. März 1718). Der Vorhang für die eigentliche Festoper „Teofane“ hingegen hob sich erst am 13. September 1719.
Die Handlung der Oper „Ascanio oder Der durch Blutsbande besiegte Hass“ gleicht einem Verwirrspiel, das sich der ebenfalls aus der Stadt am Lido angereiste Antonio Maria Abbate Lucchini erdachte. Abbate Lucchini aber war nach der Uraufführung gezwungen, Elbflorenz fluchtartig zu verlassen, weil er sich als katholischer Geistlicher in eine Liebschaft verstrickt hatte.
Für eine Aufführung in heutiger Zeit musste die in aller Ausführlichkeit erzählte Geschichte rund um den Trojanischen Krieg allerdings gestrafft werden. Die ursprünglichen drei Akte wurden in zwei Teilen dargeboten. Während der Ouvertüre im italienischen Stil lief auf der Bühne in Form einer Pantomime das Vorspiel ab, in welchem Ascanio, Sohn des Aeneas, den König Mezenzio zusammen mit dessen Kindern, dem Sohn Evandro und der kleinen Tochter Alba, aus seinem Reich Agellia vertreibt. Das Schicksal will es, dass Mezenzio und Alba nach einem Sturm auf dem Meer an das Ufer von Latium verschlagen werden. Latium aber ist das Reich von Ascanio. Mezenzio glaubt zudem, sein Sohn sei ertrunken. Ein Hirte indes rettete Evandro und brachte ihn zu Oreste, dem Ratgeber von Ascanio.
Diese Konstellation führt im Verlaufe der Oper nach zwanzig Jahren zu Rachsucht, zu Verwicklungen, Verdächtigungen, Entführungen, zu Mordplänen, Todesurteilen und Scheinhinrichtungen bis schließlich der Punkt erreicht ist, von dem aus dann die Wahrheit ihren Siegeslauf antritt, Begnadigungen ausgesprochen werden können und Ascanio eine Ehe stiftet.
Offensichtlich fand die sich im 18. Jahrhundert über ganz Europa ausbreitende Aufklärung auch in einem derartigen Handlungsgipfel ihren Niederschlag.
Den zweiten Teil leitete das Largo und Allegro aus der Ouvertüre B-Dur von Francesco Maria Veracini (1690 – 1768) ein, der während der Uraufführung von „Ascanio“ selbst im Orchester als Konzertmeister wirkte. Die Stücke im Stile des concerto grosso mit ihrem Wechsel von Tutti und Concertino stellten in ihrer glanzvollen Tonsprache einen Gewinn dar.
Dem Publikum war es allerdings nicht vergönnt, die Verwicklungen der Vorgänge auf der Bühne in allen ihren Einzelheiten zu entwirren, zumal die Aufführung in Italienisch ohne Untertitel ablief. Aber das tat dem Kunsterlebnis keinen Abbruch; denn Barockopern allgemein sind Musikopern in höchster Vollendung, in denen der Musik immer die Vorherrschaft über den Text zukommt.
Die Oper „Ascanio“ entsprach in ihrer formalen Gestalt bereits der opera seria, der ernsten italienischen Nummernoper in drei Akten, die sich hier in Rezitative, Da-capo-Arien und Duette unterteilten. Chöre fehlten. Venezianische Einflüsse waren unverkennbar. Die Rezitative brachten die Handlung voran und wurden von Cembalo, Laute, Theorbe und Cello als Continuo begleitet, einer nicht alltäglichen Besetzung, deren Akkordkombinationen in entfernten Tonarten sehr reizvoll klangen. Arien hielten die Handlung an. Unterbrochen von melodiösen Zwischenspielen, offenbarten sie in liedhaften Tonfolgen die Affekte, die Gemütszustände der handelnden Personen in immer neuen Varianten. Die besonders von Händel in vielen seiner Bühnenwerke gepflegte Innigkeit ließ sich auch an manchen Stellen des „Ascanio“ heraus hören. Chromatische Passagen kamen dort zum Einsatz, wo Schmerz oder Sehnsucht dargestellt werden sollte. Ein kurzes Finale, wie in vielen Händelopern auch, beendete das Werk.
Es waren ausnahmslos junge Stimmen zu hören, alle gut geschult und in der Lage, die virtuosen Koloraturen mit geschmeidiger Leichtigkeit zu bewältigen. Besondere Anerkennung errang Altus Kai Wessel, der kurzfristig für den indisponierten Markus Forster einsprang. Forster spielte stumm die Titelfigur, während Wessel ihm vom Bühnenrand her seine Stimme lieh: wohltönend und äußerst ausdrucksstark. Aufhorchen ließ auch Jana Reiner, als sie am Ende des ersten Teils die große Arie der Silvia sang, in der die Halbschwester Ascanios ihrer Bereitschaft Ausdruck verleiht, für die Wahrheit zu sterben. Nur Annekathrin Laabs, Altistin und Darstellerin des Ratgebers Oreste, hielt sich in den Rezitativen eigentlich zu sehr zurück, zeigte jedoch in den Arien, wie klangvoll ihre Stimme tatsächlich sein konnte. Trotzdem erschien auch hier die Tiefe fast immer glanzlos und matt.
Die Batzdorfer Hofkapelle insgesamt war es, welche die Aufführung musikalisch trug, hervorragend das Zusammenspiel zwischen ihr und den Sängerinnen und Sängern auf der Bühne. Und das alles ohne Dirigenten, entsprechend der barocken Manier! Eine Aufführung solcher Art verlangte von allen Beteiligten höchste Musikalität und immerwährende Konzentration. Beides erbrachten die Mitwirkenden in bewundernswerter Weise.
Stammsitz und Inspirationsort der Hofkapelle ist Schloss Batzdorf, ein bei Dresden gelegenes Rittergut aus dem Mittelalter. Während seiner Gründung im Jahre 1993 verlieh sich das Ensemble teils scherzhaft, teils erfolgssicher selbst den Namen, den es heute noch trägt. Alle Musiker sind Spezialisten für Alte Musik. Sie kommen aus Berlin, Köln und Dresden. Vorrangig widmen sie sich dem Sondergebiet, wenig Bekanntes aus dem Dresdner Opern- und Oratoriumrepertoire des 18. Jahrhunderts in unserer Zeit zur Aufführung zu bringen.
Ascanio, overo Gl´odi delusi dal sangue
(Ascanio oder Der durch Blutsbande besiegte Hass)
von Antonio Lotti (1666-1740)
Bachfest Leipzig 2004
Ascanio: Markus Forster, Altus
Evandro: Gesche Geier, Sopran
Silvia: Jana Reiner, Sopran
Alba: Barbara Christina Steude, Sopran
Oreste: Annekathrin Laabs, Alt
Mezenzio: Christian Dietz, Tenor
Bühne, Kostüme: Tom Böhm
Regieassistenz: Katja Erfurth
Licht: Roger Kunze
Maske: Ellen Wittig, Katja Aloé
Regie: Wolf-Dieter Gööck
Batzdorfer Hofkapelle
20. Mai 2004, Schauspielhaus Leipzig
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