Die Spielwütigen – ein Film von Andres Veiel (Michael Bolte)

Die Spielwütigen
D 2004, 90 min, Dokumentarfilm
Regie und Buch: Andres Veiel
Kamera: Hans Rombach, Lutz Reitemeier, Jörg Jeshal
Darsteller: Karina Plachetka, Stephanie Stremler, Prodromos Antoniadis, Constanza Becker
Kinostart: 3. Juni 2004

(Plakatmotiv: boxfish films)
Schauspielschülern in die Seelen geschaut

Andres Veiels faszinierender Dokumentarfilm Die Spielwütigen

Die Arbeit des Schauspielers ist kein Beruf der feinen Gesellschaft. Es gab eine Zeit, da wurden Schauspieler an Wegkreuzungen begraben, nachdem man ihnen einen Pflock ins Herz getrieben hatte. Die Darstellungen dieser Leute gingen den Zuschauern so an die Nerven, dass sie deren Geister fürchteten. Ein ehrfurcht-, ja furchtgebietendes Kompliment. Diese Spieler bewegten das Publikum nicht dergestalt, dass sie sich eine lobende Kritik einhandelten, sondern auf eine Weise, dass die Zuschauer um ihre Seelen fürchteten. Das scheint ein erstrebenswertes Ziel.

Andres Veiel begleitet in seinem Film Die Spielwütigen vier junge Menschen auf ihrem Weg zu diesem Ziel – ein Dasein als Schauspieler, ohne vorher an einer Wegkreuzung begraben zu liegen. In einer Langzeitdokumentation, angelegt von 1997 bis 2003 durchlaufen die Protagonisten des Films vier Phasen. Der Zeitpunkt vor der ersten Aufnahmeprüfung: Karina, Constanza, Prodromus und Stephanie sprechen über ihre Träume und Vorstellungen, ein Schauspieler zu sein, noch behütet von den Eltern, die sich kritisch zu den Wünschen ihrer Sprösslinge positionieren. Die Phase der Aufnahmeprüfungen: Karina, Constanza und Prodromos kommen mit dem ersten Anlauf durch die Prüfungsszenarien. Detailliert beleuchtet Veiel die vorbereiteten Rollen, setzt sie in Kontrast zu der Aufführungssituation während der Prüfung und resümiert dann mit dem Ergebnis der Aufnahmeprüfung die Qualität des Dargebotenen – dem Zuschauer wird ermöglicht, zu partizipieren, mitzuentscheiden, wer und warum jemand die Aufnahmeprüfung bestehen sollte. Eindeutig in den Vordergrund gestellt werden die emotionalen Ausbrüche während der Prüfungszeiträume. Dann das Schauspielstudium: es konfrontiert den Studenten in erster Linie mit seiner eigenen Persönlichkeit, darin liegt die größte Herausforderung dieser Phase. Folgerichtig stoßen alle vier Hauptdarsteller im Laufe ihrer Lernzeit an ihre physischen und psychischen Grenzen. Abhängig von der jeweiligen personalen Disposition gilt es, das Unverständnis den Lehrenden gegenüber zu überwinden, um dem hochschuleigenen Ziel der Ausbildung, dem eigenen Schauspielstil, näher zu kommen – letztendlich: die eigene Rolle zu finden. Und schließlich ist die Suche mit dem Ende des Studiums noch nicht beendet: die Positionierung im Berufsleben fordert neben ständiger Weiterentwicklung an verschiedenen Spielstätten immer wieder den sozialen Neuanfang.

Vorweg: Veiel hat mit Die Spielwütigen einen wertvollen Dokumentarfilm (sofern es sich um einen solchen handelt) geschaffen. In der Faszination der Arbeit des Schauspielers, die auch übrigens heute noch nicht als richtiger Beruf angesehen wird, zeigt Veiel sein Feingespür für die Auswahl einer Thematik. Der Zauber einer idealen Gemeinschaft umweht die Riegen der Schauspieler – das Mysterium des eigenen Ichs herausgekehrt, fasziniert das starke Band zum Unterbewussten die spröde Realität des Betrachters. Im Interview erzeugt die unerhörte Schärfe der Sinne die Empathie: Angst, Hoffnung, Vertrauen und Verzweiflung vorgetragen von den Schauspielern in der reinsten, d.h. in der intensivsten Form – ermöglicht durch ihre Fähigkeit als Schauspieler. Auch vor der Kamera spielen sie eine Rolle: die Rolle des Schauspielers, der gerade vor einem Interviewer steht – darin liegt die konzeptionelle Stärke des Films, das Prinzip funktioniert. Kombiniert mit Veiels unglaublichem Gespür für die Auswahl der entscheidenden Szenen, ergibt sich die Nachdrücklichkeit der empathischen Momente – kurz, die gesehenen Szenen vergisst man nicht.

Aber natürlich: wenn man sechs Jahre filmt, dann hat man auch genug Material, um gute Szenen dabei zu haben. Daraus resultiert, unter der Voraussetzung man erkennt die wichtigen Augenblicke, sicher ein Gewinn für die emotionale Dichte des Films. Andererseits, und das merkt man Veiels Film auch deutlich an, ist es eine ausweglose Aufgabe, aus dem Filmmaterial von sechs Jahren eine kinogerechte, d.h. in etwa anderthalbstündige Konzentration zu schaffen. So kann Veiel nur kurze Ausschnitte aus dem Leben der Schauspieler Preis geben, wodurch der Film mitunter zerfahren wirkt: Entwicklungslinien werden ständig abgebrochen, und an anderer Stelle weiter verfolgt. Die Homogenität des filmischen Eindrucks, d.h. unsere Fähigkeit, uns verzaubern und rezeptiv täuschen zu lassen, leidet.

Schwerlich: ob Veiel einen Dokumentar- oder fiktionalen Film gemacht hat – wem nützt diese Diskussion? Als Dokumentarfilm ausgeschrieben besitzt Die Spielwütigen eindeutige Elemente der Inszenierung. Aber, um es an dieser Stelle einmal klarzustellen: das Dokumentarische und das Fiktive unterscheiden sich nicht: sie sind einfach verschiedene Ausprägungen desselben Moments. Das heißt, wenn man einen Schauspieler filmt, wie er vor der Kamera sitzt und dabei Fragen des Interviewers beantwortet ohne Anweisungen bekommen zu haben – dann nennen wir das, was wir sehen, wahrscheinlich dokumentarisch. Wenn hingegen der Schauspieler vom Regisseur gesagt bekommt, sich auf einen Stuhl vor die Kamera zu setzen und in etwa dies oder das zu sagen, dann wird man seinem Gefühl nach die Szene als Fiktion einstufen. Nur, handelt es sich bei beiden Szenen um dasselbe Moment, denn es geht in beiden Szenen um einen Schauspieler, der auf einem Stuhl sitzt, um etwas Bestimmtes zu erzählen. Und man kann jetzt herkommen, und Veiels Film auf einer Skala zwischen Fiktion und Dokumentation einordnen – nur, letztendlich geht es darum, dass die Schauspieler an einem bestimmten Punkt im Film auf diesem Stuhl sitzen, um das zu erzählen, was der Film an dieser Stelle braucht.

Zurück zu den Schauspielern: In der Auswahl der Charaktere hat Veiel gut daran getan, vier unterschiedliche Persönlichkeitsstrukturen zu präsentieren. Karina, das kleine Mädchen, das von zu Hause auszieht und in der Schauspielerei eine Chance begreift, rebellisch zu sein, auf der Schauspielschule ohne Widerworte mitmacht und innerhalb der vorgegebenen Strukturen um Ansehen kämpft. Constanza, die von sich überzeugt ist, dass sich ihr alle Türen von selbst öffnen, die Diva, die ohne jeglichen Widerstand die Schauspielausbildung absolviert, ein Kind der geordneten Strukturen. Prodromos, immer mit eigener Meinung, von sich überzeugt, unfähig Kritik anzunehmen, kräftiger Lebensbejaher. Und Stephanie, die glaubt zum Schauspiel geboren zu sein, allerdings erhebliche Widerstände zu überwinden hat und durch ihre schräge Wesensart besonders eigenwillig wirkt. Wenn diese Protagonisten von ihren tieferen Gefühlen berichten, dann ist die Methode, mit der Veiel vorgegangen ist, als effizient einzustufen: nicht das ständige Fragen, sondern der bewusste Einsatz der Pausen, das konsequente Stummsein verhilft dem Regisseur zu den intimen Portraits.

Die Ausbildung des Schauspielers, die Erarbeitung der Rolle und die Aufführung des Stücks lässt sich in dem Rat zusammenfassen: „Besinne Dich auf Deine fünf Sinne!“ Schauspieler müssen, um den Text verständlich zu machen, hören, sehen, sprechen, reagieren und sich bewegen können. Alles Techniken, die wir im täglichen Überlebenskampf auch brauchen. So gesehen überträgt sich der Gehalt von Die Spielwütigen auf alle Menschen, die sich bewusst mit ihrer Rolle im Alltagsleben auseinandersetzen. Vielleicht liegt darin der Schlüssel für unsere Empfänglichkeit dieses faszinierenden Films.(Michael Bolte)

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