Lesung und Gespräch mit Richard Millet (Grit Kalies)

Lesung und Gespräch mit Richard Millet
14. Juni 2004, Haus des Buches


Kindheitsmuster

Auch der französische Autor Richard Millet gehört zu jenen Vertretern der schreibenden Zunft, die ihre Kindheit als Quell des Schreibens verstehen, die sich von daher gespeist fühlen und sich dahin wenden. Im Grunde komme man immer dorthin, sagt er im Gespräch nach der Lesung, je mehr man sich von der Kindheit entferne, desto näher komme man ihr. Man sei nie fertig mit der Kindheit, man sei auch nie fertig mit der Literatur. Manchmal wäre es schön, man könnte einfach leben.

Immer wieder die Kindheit, wiederholt er. Und: „5 kilos de papier. Est-ce que ça aide ?“
An die dreißig Bücher zählen zum Werk des 1953 in der Auvergne geborenen Autors, von dem bisher zwei Romane ins Deutsche übersetzt sind („La gloire des Pythre“, 1995, erschienen 2001 unter dem Titel „Der Stolz der Familie Pythre“, und „L’amour des trois s?urs Piale“, 1997, erschienen 2002 unter dem Titel „Die drei Schwestern Piale“). Der dreiteilige Essay „Le sentiment de la langue“ von 1993 und der derzeit letzte Roman „Ma vie parmi les ombres“ von 2003 erhielten Preise von der Académie française bzw. der Tageszeitung „Le Figaro“. Was wohl die deutschen Übersetzer und Verleger täten, fragt Moderatorin Elisabeth Landes, Leiterin des Institut Français in Leipzig.

Der sympathisch-lockere und intelligente Romancier, Essayist, Kritiker und Lektor bei Gallimard liest in der offenen Atmosphäre des Literaturcafés vor etwa 35 Leuten aus seinem Buch „L’amour des trois s?urs Piale“, unterbrochen durch die von einem Schauspieler vorgetragene Übersetzung „Die drei Schwestern Piale“.
Wie in den meisten der Romane Millets ist die Geschichte der drei Schwestern im Departement Corr?ze angesiedelt, dem Ort seiner Kindheit, einer rauhen ländlichen Gegend, die geprägt ist durch den Wegzug von Menschen. Un village qui est mort. Melancholisch, ja, die leere Landschaft, Devastierung, die Erinnerung, die Legenden. Hört man ihm zu, gewinnt man allerdings den Eindruck, es gebe zu viele Personen in Corr?ze. Flüchtig werden die Schicksale gestreift, eine Fülle von Namen und kurzen Erwähnungen ergießt sich in den Raum, ein roter Faden ist nicht greifbar, kaum ein Bild ist ausgemalt. Es mag an den ausgewählten Abschnitten liegen. Bleibt die französische Sprache, magnifique.

Sicherlich auch sollte man fernen Schauspielern nicht das Lesen der Übersetzungen von literarischen Werken überlassen. Schlichen sich eine Woche zuvor am gleichen Ort schauspielerische Übertriebenheit und Pathos in den Vortrag der deutschen Übersetzung von Richard Powers‘ Roman „Der Klang der Zeit“, so ist die Lesung der deutschen Richard-Millet-Übersetzung geprägt durch hölzerne Gleichhämmerigkeit, ein soldatisches Marschieren in flottem, unmusikalischem Schritt. Etwas traurig angesichts von Millets Musikalität, der von sich selbst sagt: “ La musique est ma quatri?me langue.“

(Grit Kalies)


Es wäre gut viel nachzudenken, um
von so Verlornem etwas auszusagen,
von jenen langen Kindheit-Nachmittagen,
die so nie wiederkamen – und warum?

Noch mahnt es uns -: vielleicht in einem Regnen,
aber wir wissen nicht mehr was das soll;
nie wieder war das Leben von Begegnen,
von Wiedersehn und Weitergehn so voll

wie damals, da uns nichts geschah als nur
was einem Ding geschieht und einem Tiere:
da lebten wir, wie Menschliches, das Ihre
und wurden bis zum Rande voll Figur.

Und wurden so vereinsamt wie ein Hirt
und so mit großen Fernen überladen
und wie von weit berufen und berührt
und langsam wie ein langer neuer Faden
in jene Bilder-Folgen eingeführt,
in welchen nun zu dauern uns verwirrt.

(Rainer Maria Rilke)

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