Die Bühne des hiesigen Musiklebens

Ein Festkonzert zur Namensgebung des Leipziger Universitätsorchesters

Darauf haben viele gewartet: ein Orchester der Universität Leipzig. Nun hat sich das Leipziger Universitätsorchester in zwei Konzerten auf die Bühne des hiesigen Musiklebens gehievt. Vor wenigen Monaten hat der Klangkörper sich als ein „Studentisches Orchester“ im Mendelssohn-Saal des Gewandhauses vorgestellt. Viele interessierte Zuhörer wurden aber an der Abendkasse wieder weggeschickt, weil der Saal völlig ausverkauft war. Eine Ermutigung, das nächstfolgende Konzert in den Großen Saal des Gewandhauses zu verlegen. Nach dem Eröffnungskonzert wurden Bande zur Universität Leipzig geknüpft, insbesondere zum Universitätsmusikdirektor Wolfgang Unger. Die Idee, ein eigenes Universitätsorchester zu gründen, löste große Begeisterung bei Rektorat und StudentInnenrat aus, und das Orchester erhielt organisatorische und finanzielle Unterstützung. Das Rektorat verlieh dem Orchester den neuen Namen, wofür als feierliche Bestätigung das Festkonzert stattfinden sollte. Es ist tragisch, daß es Wolfgang Unger durch seinen frühen Tod nicht mehr vergönnt war, an diesem Festkonzert teilzuhaben.

Der Rektor der Universität Leipzig, Franz Häuser, eröffnete das Festkonzert zur Namensgebung mit einer kurzen Ansprache. Entgegen aller diplomatischen Erwartung verschwieg er nicht die Existenz des Akademischen Orchesters, das Anfang der Neunziger Jahre aus dem KMU-Orchester hervorging und seither als inoffizielles Uni-Orchester angesehen wurde. Häuser betonte in seiner Ansprache sogleich, es sei keine Konkurrenz geplant. Tatsächlich möchten sich auch die Mitglieder das Leipziger Universitätsorchesters nicht gegen das Akademische Orchester ausgespielt sehen. Dafür gibt es zu viele Unterschiede in
der Zusammensetzung und in der Arbeitsweise.

Das neue Uni-Orchester stellt in jedem Semester ein Konzert auf die Beine und probt hierfür kontinuierlich in der Vorlesungszeit. In der Regel erscheinen sämtliche Orchestermitglieder zur Probe. Hingegen nimmt sich das Akademische Orchester sechs Konzerte im Jahr vor. Für jeden Auftritt sind ca. sechs Wochen Probenzeit vorgesehen; die Mitglieder dieses Orchesters können projektweise teilnehmen oder eben auch für ein Konzert aussetzen.

Das Akademische Orchester könnte man als semi-professionell bezeichnen; zum großen Teil besteht es zwar aus Studenten der Universität, doch sind viele andere Mitglieder mit dem Stallgeruch einer Musikhochschule behaftet. Das LUO legt besonderes Augenmerk auf die „guten Amateure“, die im „anderen Leben“ etwas anderes machen. Indessen muß sich der Amateur kritisch im Rahmen eines Vorspiels würdigen lassen; diese Hürde gilt es auch für den Eintritt in das Akademische Orchester zu nehmen. Als weitere Besonderheit hat das LUO keinen festen Dirigenten, sondern bietet ein Sprungbrett für junge Dirigenten, die für jedes Projekt neu gecastet werden.

Es ist durchaus nicht ungewöhnlich, daß in einer Universitätsstadt mehrere Orchester vergleichbarer Qualität nebeneinander bestehen, die sämtlich auch Studenten als Mitglieder haben. Die Klangkörper unterscheiden sich in der Programmatik – z. B. Wiener Klassik oder große romantische Literatur, Solokonzerte oder reine Streichermusik – und oft auch in der Bezahlung ihrer Musiker. Konkurrenz belebt das Geschäft, das mag sein – dennoch sind die Orchester einer Stadt Freunde genug, um Konzerttermine abzusprechen und das interessierte Publikum nicht zu frustrieren.

Mit zarten Klängen fing das Leipziger Universitätsorchester sogleich seine Zuhörer ein. Die Holzbläser bestachen durch klangliche Gestaltung und sichere Einsätze. Feine dynamische Abstufungen selbst bei den Streichern. Sogar die Pizzicati waren gleichzeitig! Keine „Solistenangst“ war zu spüren, wenn einmal ein Musiker solistisch hervortrat. Die „Petite Suite“ von Claude Debussy mit ihren ausgehörten Klängen von einem frisch zusammengestellten Orchester spielen zu lassen, ist mutig. Pianisten, die sonst Bach oder Beethoven spielen, müssen sich die Anschlagsnuancen impressionistischer Musik hart erarbeiten. Man hätte argwöhnen können, die Orchestermitglieder schrubben den Debussy ähnlich kräftig herunter wie zu Schulzeiten eine Haydn-Sinfonie (was übrigens auch nicht in Ordnung gewesen wäre…)

Aber man hörte die viele Probenarbeit heraus, die die Dirigentin Anna Shefelbine und die Dozenten vom mdr-Orchester mit den Musikern geleistet hatte. Shefelbine beschränkte sich im Konzert auf sehr sparsame, aber prägnante Zeichengebung und schien damit den berühmten Ausspruch Franz Liszts umzusetzen, daß die Aufgabe des Dirigenten darin bestehe, sich bei der Aufführung überflüssig zu machen.

Das 1. Klavierkonzert von Sergej Prokofjew wird selten gespielt. Es ist der Musik anzuhören, wie jung der Komponist war. Als Zwanzigjähriger hat Prokofjew es geschrieben und später für sein Klavier-Examen gespielt. Die Musik klingt aber mit ihren schrägen Harmonien und übereinander geschichteten Rhythmen bereits wie ein typischer Prokofjew, und der Komponist selbst sprach später diesem Jugendwerk sogar eine gewisse Reife zu.

Christian Girbardt ist zwar im gleichen jugendlichen Alter, aber Kandidat für ein anderes Examen, nämlich in der Medizin. Das Konzertstück bietet einige pianistische Finessen, die es über das Niveau einer Aufnahmeprüfung für das Klavierstudium heben. Beim Eingangstutti, wo der Solist colla parte mit dem Orchester geht, gab es noch Verständigungsprobleme, die wohl der ungewohnten Umgebung geschuldet waren. Diese Sorge erledigte sich später im Adagio-Teil, wenn das Klavier die Soli der Holzbläser figuriert und dabei eben jene Melodien doubliert: Im Klavierpart ist gewissermaßen eine dritte Hand vorzutäuschen. Waren die frischen Soli im stark am Tutti-Solo-Prinzip orientierten Konzert manchmal an der Grenze zur Überhastung, war das kleine Solo im Adagio, das in einem hochromantisch arpeggierten, freilich pfeffrig gewürzten Klavierstil gehalten ist, ein zugleich spannender und inniger Moment.

Der Orchesterpart bietet weniger Gelegenheit als bei Debussy, an den Klangfarben zu arbeiten. Doch schenkten die Studenten mit dem von Trompeten und Bratschen gebrachten, marschartigen Thema in e-Moll den Zuhörern eine kleine Praline. Da hätte ich mir von Prokofjew eine längere Ausarbeitung gewünscht – um das Geschenk größer ausfallen zu lassen…

Was die Großform anging, litt die Aufführung des Klavierkonzerts aber doch unter einer gewissen Gleichförmigkeit, die gelegentlich ins Hastige abglitt. Würde dieses Stück erneut aufgeführt, könnte ich mir mehr Gelassenheit vorstellen und die einzelnen Episoden in ihrer Farblichkeit besser ausgearbeitet.

Girbardt spielte indessen mit einer großen Lockerheit und Freude, die das Publikum am Ende zu mehrfachen Begeisterungsstürmen hinriß und den Solisten zu einer Zugabe, dem ebenfalls oktavenbelasteten ersten der 3 Preludes von Gershwin.

Wenn viel an Klängen gearbeitet wird, kann leicht die große Form hierüber vergessen werden. Nach den impressionistischen Pralinen von Debussy befürchtete ich das für das Spiel der 8. Sinfonie G-Dur op. 88 von Antonín Dvorák. Aber Shefelbine vergaß hier nicht die große Form, ihr gelang es, eine Geschichte zu erzählen und die vier Sätze nicht nur als Abfolge zu präsentieren.

Einige Kleinigkeiten müssen doch erwähnt werden. Die Streicher waren nicht immer unisono. Manche komplizierten Metren wurden freizügig ausgelegt, eine gerne von hinteren Pulten gepflegte Unsitte. Die bei den Debussy-Stücken gehörten dynamischen Abstufungen wurden leicht vernachlässigt. Manchmal waren Einwürfe von Holz und Blech ein klein wenig kräftiger geraten, womöglich hörten sich die Musiker schlecht innerhalb des symphonischen Satzes. Doch blieben die Holzbläser mit ihren beeindruckenden Einsätzen das Pfund des Orchesters.

Über die kleinen Schwächen konnte leicht hinweggehört werden, unter Shefelbine blieb auch innerhalb der Sätze die Form erhalten und zerfiel nicht in einzelne thematische Abschnitte. Selbst bei Orchesterausbrüchen blieb die Dirigentin in ihrer Körpersprache ruhig. Zeitweilig schien sie gar nicht den Taktstock zu bewegen.

Der erste Satz war von der unterhaltsamen Machart, wie man es von Dvorák auch kennt. Deshalb überraschen die kargen Klänge im langsamen Satz, die mich an die Landschafts-Episode aus der „Symphonie fantastique“ von Berlioz erinnern. Die Einsamkeit des zerklüfteten Adagio setzte sich unter Shefelbine ins Finale fort. Wider Erwarten attacca an das Scherzo gaben die Trompeten kein flottes Signal zum Kehraus im Zweiertakt, sondern evozierten durch ein leicht reduziertes Tempo existenzielle Gedanken im Kopf, die sich bestätigt fühlen im Abgleiten zu tiefen Einzeltönen und den geradezu schicksalhaft pochenden Pauken. Nach diesen ersten 24 Takten hätte man eine finale Auseinandersetzung erwartet! Aber ein Tanz setzt sich langsam und variiert in Bewegung, und nach und nach kommt doch freudige
Stimmung auf. Noch einmal ein spannungsgeladener, leiser Abschnitt, und der von allen vier am besten gelungene Satz endete mit einer fulminanten Coda.

Mit seinem Konzert zur Namensgebung begeisterte das Leipziger Universitätsorchester das Publikum. Die Menschen sprangen auf, es wurden Blumensträuße überreicht. Bald stehender Applaus. Ein Jahr, bevor Chailly den Profis in Leipzig einen weiteren Qualitätssprung ermöglichen wird, hat im studentischen Musikleben bereits eine neue Zeit begonnen.

Festkonzert zur Namensgebung des Leipziger Universitätsorchesters

27. Juni 2004, Gewandhaus, Großer Saal


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