Es ist wieder Zeit, Stanley Kubrick zu sehen

A Life In Pictures: Das Deutsche Filmmuseum präsentiert eine monumentale Ausstellung zu Leben und Werk des großen Regisseurs

Stanley Kubrick am Set von „Killer’s Kiss“ (Foto: Alexander Singer / Stanley Kubrick Estate)

„Countdown for Kubrick“ heißt es in Frankfurt am Main. Nur noch kurze Zeit präsentiert das Deutsche Filmmuseum zusammen mit dem benachbarten Deutschen Architektur Museum eine Ausstellung von enormer Tragweite zum Werk des Filmemachers Stanley Kubrick.

Fünf Jahre nach seinem Tod ist in enger Zusammenarbeit mit Ehefrau Christiane Kubrick und dem langjährigen ausführenden Produzenten Jan Harlan zum ersten Mal der umfangreiche Nachlass erschlossen worden. Tausende Kisten und Schachteln lagerten auf dem Anwesen im Norden von London – Kubricks Wohnsitz und Arbeitsstätte zugleich. Acht Monate lang sichtete und erfasste ein Archivar des Filmmuseums Skripte, Rechercheunterlagen, Drehpläne, Korrespondenz, Fotos, Requisiten, technisches Equipment, Tonbandaufnahmen und Videos. Über einen Filmemacher, von dem es heißt, er wäre einer der verborgensten überhaupt gewesen, ist diese Ausstellung eine Sensation.

Die Gerüchteküche um Kubrick brodelte so hoch, dass er nicht zuletzt als arrogant, herrschsüchtig und frauenfeindlich denunziert wurde – und das in einem von Frauen wimmelnden Haushalt, schmunzelt Christiane Kubrick, die derzeit verstärkt für die Richtigstellung des Kubrickbildes an die Öffentlichkeit tritt. Bei einer solch bemerkenswerten, heiteren und lebensbejahenden Persönlichkeit, die er während der Dreharbeiten zu Paths of Glory als Schauspielerin kennen lernte und die heute längst als eigenständige Malerin anerkannt ist, beginnen die Vorurteile über Kubrick zu bröckeln – vor allem jene über seine pessimistische Weltsicht. Die Ausstellung leistet den ihrigen Beitrag zum genaueren Verständnis dieses außergewöhnlichen Künstlers. Was hätte er schon sagen sollen in Interviews, die er aus Schüchternheit den Medien nicht gab? Wurde Kubrick auf seine Filme angesprochen, schaute er verlegen zur Seite. Alles über sein Werk und seine Person findet sich im konzentrierten ?uvre von nur 16 Filmen. Auf 1.200 qm sucht die Ausstellung daher kreative Zugänge zu Kubrick über ein Verständnis seiner Filme. Das Ausstellungskonzept orientiert sich an Kubricks genuiner Art des Kunstschaffens, die sich nicht wie bei anderen Künstlern dadurch auszeichnete, mit genauen Skizzen erste Details zu schaffen, um sich dann voran zu arbeiten, sondern wie mit großen Pinselstrichen zunächst kräftige Farben und Gesamtvorstellungen zu malen – so erzählt Jan Harlan. Jedem Film gebührt hier ein eigenes Konzept, das seine eigenwillige Besonderheit auszustrahlen versucht. Das ist angemessen und notwendig für Kubricks Filme, die alle in unterschiedlichen Genres zu verorten sind und zugleich deren Höhepunkte markieren.

Jazz, Schach, Foto

Bevor Kubrick beschloss, nur noch Filme zu drehen, zeichnete sich sein Leben vor allem durch Jazz, Schach und Foto aus – so auch der Titel des ersten Ausstellungsbereichs. Seine Trommel erinnert an die Jazzband, in der er spielte, als er als Sohn eines Arztes in der Bronx aufwuchs, das Schachbrett an seine Leidenschaft, mit der er im Central Park sein erstes Geld verdiente. Als begeisterter Hobbyfotograf war er nicht nur in der Schülerzeitung erfolgreich. Sein Gespür für die Gebrechen der Zeit machte ihn zum jüngsten Fotografen der Zeitschrift LOOK. Als Präsident Roosevelt starb, war Amerika so tief bestürzt, dass Kubrick mit dem Foto eines betroffenen Zeitungshändlers eine Allegorie auf die Trauer der Nation entwarf und Mut genug besaß, es bei der Zeitschrift einzureichen. Zahlreiche Originalfotos zeugen von der frühen Genialität Kubricks bildlichen Ausdrucks, die sich durch alle seine Filme zieht. Die Suggestivität und Besonderheit dieser Filme, die sich nicht zuletzt durch eine unentwegte Rätselhaftigkeit auszeichnen, resultieren in erheblichem Maße aus dieser ungeheuerlichen Macht der Bilder.

Barry Lyndon (Ryan O’Neal) und der Chevalier de Balibari (James Magee) (Foto: Warner Bros. Entertainment Inc.)

Nach drei kaum bekannten Kurzfilmen und dem ersten Langspielfilm Fear and Desire (1953), dem Kubrick die Aufführungsrechte entzog, weil er zu „prätentiös“ sei, beginnt die Ausstellung mit einigen Fotos zu diesen Filmen sowie einem Bereich zu Killer’s Kiss (1955), einem Thriller, Melodram und Gangsterfilm in Schwarzweiß, dessen Bilder von den Straßen New Yorks und Boxkämpfen noch direkt aus den Erfahrungen als Fotoreporter schöpfen. Bereits hier zeigen sich aber ungewöhnliche Erzählstile und Kameraperspektiven, wofür die Nachbildung des Fensters steht, durch das der Protagonist seine bedrängte Nachbarin beobachtet.

Bereits die nächste Station ist ein simples wie glanzvolles Beispiel für die gelungene Rauminszenierung der Ausstellung. The Killing (1956), ein Kriminalfilm, mit dem Kubrick erneut zeigte, dass er das frühe Filmemachen wie ein Schachspiel meisterte, wird hier in analoger Untergliederung zum Film dargestellt: Für jede Episode des mit Rückblenden arbeitenden, puzzleartigen Films wurde jeweils eine Originalrequisite, ein Foto und ein Zitat des Protagonisten gewählt, um den kompletten Film auf wenigen Quadratmetern nachspielen. Das ist so mutig stilisierend wie genial. Eine Inszenierung, die aufgrund der klar kalkulierten Struktur des Films aufgeht und eben jener Raffinesse des Geschichtenkonstruierens nachkommt, mit der The Killing auch heute noch überzeugt. Dieser Anspruch, das spezifisch Filmische in museale Ausstellung umzusetzen, erweist sich in den folgenden Filmen als schwieriger. Kubrick fand immer mehr zu seiner unverwechselbaren Filmsprache der Mehrdeutigkeiten, deren Strukturen kaum noch in anderer Weise umzusetzen wären. So gewinnt die Akzentuierung auf Details in den folgenden Ausstellungsstationen an Bedeutung. Für Paths of Glory (1958) wurde ein Triptychon aus Szenenfotos entworfen und dem gemalten Triptychon Der Krieg (1929-1932) von Otto Dix gegenübergestellt – wenn auch leider nur einer Reproduktion des Originals aus Dresden. Dem Film, der nicht als klassischer Kriegsfilm kategorisierbar ist und trotz aller Anspielungen nicht explizit während des Ersten Weltkriegs spielt, wird somit eine Überzeitlichkeit und Universalität zugesprochen. Er zeigt, dass menschliche Schwächen und Leid überall dort auftreten, wo Krieg und Unterdrückung herrschen – frei vom historischen Kontext, wie auch Otto Dix Gemälde bis heute seine Gültigkeit behält.

Ein Wiedersehen mit der Korova-Milchbar

Kubricks Monumentalfilm Spartacus (1960), über den er sich jahrelang ärgerte, weil er der einzige Film sei, über den er nicht die volle Kontrolle besessen habe, wird in der Ausstellung vor allem mit einem Foto vom Drehort gezeigt, auf dem hunderte Statisten auf dem Schlachtfeld ihre nummerierten Schilder hochhalten, damit der Regisseur mit dem Fernglas noch jeden einzelnen dirigieren kann – Kubrick war ein Detailfanatiker, davon zeugt auch der ausgestellte legendäre Karteikasten für das Napoleon-Projekt, für den er jahrelang mehrere Mitarbeiter beschäftigte, um zu sämtlichen wichtigen Persönlichkeiten, die Napoleon umgaben, Dossiers zu erstellen. Spartacus – ein im Übrigen keineswegs misslungener, sondern wunderbar epischer Historienfilm – katapultierte Kubrick in die obere Liga Hollywoods. Er verschaffte ihm die Möglichkeit, von nun an uneingeschränkt die eigenen künstlerischen Vorstellungen umzusetzen. Das ist ihm mit Lolita (1962) zumindest in Abgrenzung zur repressiven amerikanischen Gesellschaftsnorm der frühen 60er Jahre gelungen. Vermeintlich obszöne Farbdias von Lolita spielen darauf an, die hier eingereiht in einem schwarzen Kasten zu begutachten sind, was einen reizvollen Gucklocheffekt der Indiskretion bildet, der auch im Bereich zu Eyes Wide Shut verwendet wurde, um Assoziationen zum Gemälde Garten der Lüste (15. Jh.) von Hieronymus Bosch zu wecken. Noch bevor Kubrick die harmlose Nabokov-Verfilmung drehte, für die er dennoch harsche Kritik auf sich zog, hatte er die USA für immer zu verlassen. Was in den kommenden Jahren folgte, waren die Filme, die Kubrick zur Legende machten: Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb (1963), 2001: A Space Odyssey (1968), A Clockwork Orange (1971), Barry Lyndon (1975), The Shining (1980), Full Metal Jacket (1987) und Eyes Wide Shut (1999).

Stanley Kubrick während der Dreharbeiten zu „2001: A Space Odyssey“ (Foto: Stanley Kubrick Estate)

Die Ausstellung begeistert immer wieder mit begehbaren Rauminstallationen wie einer Nachbildung vom Inneren des HAL-9000 Computers aus 2001, einer angedeuteten Korova-Milchbar aus A Clockwork Orange, mit Originalobjekten wie der Station zur Frontprojektion, die den Prolog der Menschenaffen in 2001 wie eine Außenaufnahme in einer Urlandschaft erscheinen lässt, obwohl sie im Studio gedreht wurde. Auch zu sehen: Kubricks (einziger!) Oscar, und als interaktive Installation: das legendäre Zeiss F0.7-Objektiv, mit dem zum ersten Mal ausschließlich durch Kerzenschein beleuchtete Szenen wie die in Barry Lyndon gedreht werden konnten. Und faszinierend sind die Miniaturmodelle des Labyrinths aus The Shining, der Zentrifuge aus 2001 oder des War Rooms aus Dr. Strangelove. Durch die Stationen führen stichhaltige Texttafeln, die sowohl den jeweiligen Plot (der grobe Abriss einer Story) als auch die wechselvolle Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte dokumentieren – interessant sowohl für Laien als auch für Fachkundige. Erstmals kommen auch Kubricks unvollendete Filmprojekte zur Geltung: das umfassende Napoleon-Projekt und – weniger reichhaltig ausgestellt – das Aryan Papers-Projekt über den Holocaust und der von Steven Spielberg verwirklichte A.I. – Artificial Intelligence. Ergänzt wird die Ausstellung mit einem Dokumentarfilm über Kubricks revolutionären Einsatz von Filmmusik, deren eigene Souveränität zusätzliche Bedeutungsebenen schafft.

Über 40.000 Besucher haben die Ausstellung bisher gesehen. Im kommenden Jahr wird sie vermutlich in Berlin zu sehen sein, später in Rotterdam. Der Erfolg liegt auf der Hand: die Ausstellung konnte auf größtmögliche Unterstützung zurückgreifen und ist umfangreich angelegt, ohne dabei überfordernd zu sein. Stattdessen ist sie so spielerisch inspirierend, dass sie vor allem Lust macht, noch einmal – und immer wieder neu – die Filme von Stanley Kubrick zu sehen. Die begleitende Filmreihe kommt diesem Verlangen gebührend nach. Damit erfüllt sich der Wunsch, den man bereits im Eingangsbereich der Ausstellung verspürt, wenn der erste Blick auf ein Dutzend Monitore fällt, die Szenen aus den zwölf Langspielfilmen Kubricks zeigen. Man mag denken, das sei eine überschaubare, beinahe magere Anzahl für das Gesamtwerk eines der größten Filmemachers in der Geschichte. Doch die Ausstellung zeigt noch einmal, was schon nach einem kurzen Moment wachgerufen wird während man auf diese wenigen Bildschirme schaut: es ist, als blicke man in ein Universum, dem man sich nie mehr entziehen kann, hat man es je einmal betreten.

Stanley Kubrick. Ausstellung / Filmreihe

Katalog: Deutsches Filmmuseum, Reihe Kinematograph Nr. 19, 29,90 Euro
Öffnungszeiten (verlängert ab 24. Juni): Di-Fr, So 10-20 Uhr, Sa 14-20 Uhr

31. März – 4. Juli 2004
Deutsches Filmmuseum Frankfurt am Main
Deutsches Architektur Museum


Filmografie – Stanley Kubrick (1928-1999):
Day of the Fight (USA 1950-1951; Kurzfilm)
Flying Padre (USA 1950-1951; Kurzfilm)
The Seafarers – (USA 1953; Kurzfilm)
Fear and Desire (USA 1951-1953)
Killer’s Kiss / Der Tiger von New York (USA 1955)
The Killing / Die Rechnung ging nicht auf (USA 1955-1956)
Paths of Glory / Wege zum Ruhm (USA 1957)
Spartacus (USA 1959-1960)
Lolita (GB / USA 1960-1962)
Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb / Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte die Bombe zu lieben (GB / USA 1963-1964)
2001: A Space Odyssey / 2001: Odyssee im Weltraum (GB / USA 1965-1968)
A Clockwork Orange / Uhrwerk Orange (GB / USA 1970-1971)
Barry Lyndon (GB / USA 1973-1975)
The Shining / Shining (GB / USA 1978-1980)
Full Metal Jacket (GB / USA 1985-1987)
Eyes Wide Shut (GB / USA 1996-1999)


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