Von A bis Zypresse

Buchempfehlung: P.W. Hartmanns etwas anderes Kunstlexikon

P. W. Hartmanns Kunstlexikon ist eine Ausnahmeerscheinung unter den Lexika

Wie sieht es aus, das typische Kunstlexikon? Inhalt? Bedeutende Künstler, Epochen, Stilrichtungen, Techniken und Materialien samt Definitionen, würde man meinen. Bilder? Ja, bestimmt. Anspruch: Hoch. Unterhaltungswert? Eher niedrig. Leser? Bildungsbürger und Kunsthistoriker. Ausnahme: P. W. Hartmanns Kunstlexikon.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ebendieser Ausnahme kann man durchaus Anspruch und inhaltliche Vielfalt attestieren. Die Leser dürften ob des wirklich umfangreichen Informationsangebots höchst erfreut sein – Bildungsbürger ebenso wie Kunsthistoriker. Bedeutende Künstler, Epochen, Stilrichtungen, Techniken und Materialien werden ausführlich benannt, definiert und auf wissenschaftlich korrekte, jedoch auch dem Laien verständlicher Weise erklärt. Würde man bei Lexika von Pflicht und Kür sprechen, wäre somit die Pflicht erfüllt – ein Nachschlagewerk ist das Kunstlexikon, alphabetisch geordnet, zur Kunst und ihrer Geschichte. Was will man mehr? Die Kür will man, denn P. W. Hartmann schafft mit seinen kompetenten Mitarbeitern (unter anderem Diamanteure, Restauratoren, Hochschuldozenten und Forscher) etwas, das kaum einem anderen Lexikon gelingt: Unterhaltung.

Ein Beispiel: Man hört das Lied ‚My secret europe‘ von Phantom/Ghost im Radio (dass dieses Lied leider sehr selten im Radio gespielt wird, steht auf einem anderen Blatt) und fragt sich, wer mit ‚Lady Godiva‘ gemeint ist, die im Text vorkommt. Angenommen, man käme auf die Idee, im Kunstlexikon nachzuschlagen, würde man fündig. „Godiva, Lady, engl. Sagengestalt des 11. Jh., Gemahlin des Grafen Leofric von Mercia. Der Graf hatte versprochen, die seinen Untertanen auferlegte drückende Steuerlast zu mindern, wenn die um Vermittlung bemühte G. zur Mittagszeit völlig nackt durch Coventry reiten würde. Wider Erwarten erklärte sich die Gräfin dazu bereit. Die Bürger der Stadt verehrten ihre Herrin sehr, niemand hielt sich deswegen an dem besagten Tag auf der Straße auf, und alle Türen und Fenster der Häuser waren fest verschlossen. Nur ein Schneider konnte seine Neugierde nicht beherrschen und spähte durch einen Spalt ins Freie. Er wurde von der überirdischen Schönheit G.s geblendet und verlor sein Augenlicht, weshalb man ihn fortan ?Peeping Tom‘ nannte. Das Thema ist auf zahlreichen engl. Bildern dargestellt.“ Unter dem selben Stichwort hätte man natürlich auch nachschlagen können, wenn einem zum Beispiel Salvador Dalís Bild ?Lady Godiva‘ aufgefallen wäre und man sich gefragt hätte, was es mit der gemalten Schönen auf sich hat.

Und so sind bei Hartmann mythologische und biblische Gestalten und Geschichten ebenso verzeichnet wie die Geschichte der Briefmarke; nicht nur als Leipziger dürfte es einen freuen, den Goldenen Schnitt endlich in einem Satz erklären zu können („Die Teilung einer Strecke in zwei ungleiche Abschnitte in der Weise, dass das Verhältnis des größeren zum kleineren Abschnitt dem der ganzen Strecke zum größeren Abschnitt entspricht. […]“), und dass mit ‚Mannsdose‘ früher die Schnupftabakdose, mit ‚Weibsdose‘ aber die Bonbonnière bezeichnet wurde, ist nicht nur kunsthistorisch aufschlussreich. Im Eintrag über ‚Kunst‘ wird Eugen Roth zitiert („Ein Mensch hält an dem Grundsatz fest, dass über Kunst sich streiten lässt. Er widersteht den Avantgarden und ihren wortgewandten Barden. […]“), und was es mit Demokrit und Heraklit auf sich hat, wird ebenfalls erklärt. Kurz: Viele kleine Geschichten, die – nicht nur – in der Kunst ihren Niederschlag finden, werden erläutert. Etymologisches („Tusche, von franz. toucher, „leicht berühren […]“) findet seinen Platz neben den üblichen Lexikonbegriffen wie ‚Klassizismus‘ oder ‚Op Art‘, kuriose Einträge wie ‚Gretchen in der Küche‘ und ‚Hansel im Keller‘ stehen neben ‚Griechische Kunst‘ und ‚Hansekanne‘.

Auffällig: Der Eintrag für ‚Olympische Spiele‘ (fast zwei Spalten) ist länger als der für ‚Ölmalerei‘ (eine Spalte); das aber ist typisch für Hartmanns Kunstlexikon. Das, was man in jedem zweiten Ausstellungskatalog und in so manchem art-Magazin nachlesen kann, wird zwar behandelt; ausführlicher aber gehen die Autoren ein auf das, was man als Kunstkonsument sonst nicht erfährt. Die Attribute und Symbole, die über mehrere Seiten hinweg aufgelistet werden, sind besonders interessant: Hier liest man zum Beispiel, dass das Sieb das Attribut der heiligen Amalberga ist und die Lampe ein Symbol für Leben und Wachsamkeit.
Dass außer dem ansprechenden Umschlagfoto keine Bilder verwendet wurden, ist ein wenig schade. Dass Picasso und van Gogh nicht im Lexikon verzeichnet sind, verwundert, lässt sich aber verschmerzen; dafür lernt man einiges über Simon Troger, einen auf Kombinationsfiguren aus Elfenbein und Holz spezialisierten Bildhauer; wie wichtig derlei Einträge sind, zeigt sich, wenn man die Suchmaschine Google in dieser Sache befragt: Über 700.000 Ergebnisse für Pablo Picasso, nicht einmal 100 aber für Simon Troger – der in seinem Metier jedoch ebenso Meilensteine setzte.

Nun ist aber P. W. Hartmanns Werk kein Buch, dass man nur gelegentlich nach dem arte-Themenabend durchblättert, um sich ein wenig Fachwissen für die Nacht im Elfenbeinturm oder das nächste Kolloquium an der Universität anzueignen. Ein praktischer Test zeigt dies: Wer am 20. Juni 2004 die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung aufgeschlagen und bis zum ?Kunstmarkt‘ durchgeblättert hat, stieß auf einen kleinen Artikel namens Die Vase der Pompadour. Es ging darin um eine Seladon-Deckelvase mit Goldbronze-Fassung, die die Marquise de Pompadour einem Minister am Hofe Ludwigs XV. geschenkt hatte. Zog man in diesem Fall das Kunstlexikon zu Rate, fand man ausführliche Einträge zu den Stichwörtern ‚Vase‘, ‚Pompadour‘, ‚Seladon‘ ‚Goldbronze‘, ‚Fassung‘ und ‚Louis-quinze‘ – der Artikel füllte sich mit Leben.

Zwischen ‚A‘ und ‚Zypresse‘ finden sich etwa 10.000 Einträge, oft versehen mit Angaben zu weiterführender Literatur, auf 1663 Seiten. Besonderer Service: P. W. Hartmanns Kunstlexikon steht im Internet zur kostenlosen Nutzung bereit. Dass dort der Eintrag ‚Zypresse‘ fehlt und trotz alphabetischer Ordnung ‚Zwölf kleine Propheten‘ vor ‚Zwölfjähriger Jesus im Tempel‘ steht – in der Buchausgabe wurde es richtig gemacht -, stört den Stöbergenuss kaum. Denn wo findet man sonst schon ein so untypisches und daher umso schöneres Kunstlexikon?

P. W. Hartmann: Kunstlexikon

BeyArs, St. Gilgen/Salzburg 1996

1663 Seiten, ca. 10.000 Stichwörter

69,- Euro (Gebundene Ausgabe)

P. W. Hartmanns Kunstlexikon online:www.beyars.com/de/de_kunst-lexikon-hartmann.html

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