„Brazil” von Terry Gilliam in der Filmreihe „Spurensuche”

Brazil
GB 1984-85, 142 min
Regie: Terry Gilliam
Buch: Terry Gilliam, Tom Stoppard, Charles McKeown
Kamera: Roger Pratt
Musik: Michael Kamen
Darsteller: Jonathan Pryce, Ian Holm, Robert de Niro, Katherine Helmond, Bob Hoskins, Michael Palin

Schaubühne Lindenfels, 7. Juli 2004
Reihe „Spurensuche Filmgeschichte: Zukunftswelten im Science Fiction“

(Bild: Verleih)Parodie der Utopie

Irgendwann im 20. Jahrhundert? Mit dieser zeitlich ziemlich unklaren Ankündigung beginnt Brazil, Terry Gilliams äußerst dunkelschwarzhumorige und eigenwillige Verfilmung von Orwells 1984. Gilliam, der selber sagt, von Begriffen wie gutem oder schlechtem Geschmack nie viel gehalten zu haben, tobt sich in zweieinhalb Stunden hemmungslos in diversen Genres und Film- wie Romanmotiven aus. Film Noir, Gesellschaftssatire, Metropolis, Blade Runner, Mad Max, Kafka und Orwell, Slapstick, Monumentalfilm und natürlich ?klassischer‘ Science Fiction Film sind nur einige Assoziationen, die während des Schauens in den Sinn kommen. So wenig sich Gilliam um so etwas wie guten Geschmack zu bemühen versucht, so egal scheinen ihm auch die Genregrenzen, eine saubere Stimmungslage oder der sogenannte korrekte Humor zu sein. Ganz im Gegenteil: hier reiht sich im Sekundentakt Grausames an Groteskes, bitterer Ernst wird abgelöst durch albernen Humor, und in jedem noch so platten Witz scheint eine ernstgemeinte Botschaft enthalten zu sein.

Nach dem eher witzig heiteren Time Bandits (1981) wendet sich Gilliam in seinem dritten Film einer durch und durch negativen Utopie zu: es ist die eher traurige Geschichte um den kleinen Beamten Sam Lowry, der das System des totalitären Überwachungsstaates durchschaut hat und sich der vorgegebenen Karriere verweigert. Er flüchtet sich lieber in seine Träume, in denen er als Superheld in einer Mischung aus Erzengel, Highlander und Drachentöter eine schöne Frau aus den Klauen der finsteren Seite retten will. Ausgelöst durch ein winziges und zufälliges Versehen wird er das Opfer einer anonymen, aber gerade darum so effektiven Tyrannei. Für eine Weile wird für ihn das Drama, das sich aus diesem Fehler entspinnt, zu einem Abenteuer, das ihn aus dem eintönigen Alltag herausreißt und in einen wagemutigen Rebell verwandelt. Die eigentlich sehr simple Geschichte wäre schnell erzählt, handelte es sich bei dem Regisseur nicht um Terry Gilliam, der dem Zuschauer wieder einmal unzählige Umwege und narrative Verschachtelungen zumutet und ihn ein ums andere Mal in einer Flut von Zitaten und Anspielungen auf die gesamte Literatur-, Film- und Fernsehgeschichte die Orientierung verlieren lässt.

Neben den klaustrophobischen, blitzblanken Stadteindrücken – la Metropolis und einem dreckig futuristischen Design wie aus Mad Max geklaut, springen vor allem die einfach nur als abgedreht zu bezeichnenden (Traum-) Bilder ins Auge: aus Steinwänden herauswachsende Hände, die nach Lowry greifen; ein im wahrsten Sinne organisch anmutendes Innenleben der Wohneinheiten; altmodische Zukunftstechnik, die sowohl Lowrys Wohnung als auch das Informationsministerium wie einen automatisierten Hochsicherheitsapparat erscheinen lässt.

Das einstige Monty Python-Mitglied kann zudem nicht verbergen, dass er sein Handwerk unter anderem in der britischen Satire-Gruppe erlernt hat – der Einfluss des sehr speziellen und teilweise auch äußerst albernen Witzes ist nicht zu übersehen. So sind sogar Parallelen zum Film Ein Fisch namens Wanda (1988) erkennbar, für den John Cleese – ebenfalls tätig bei Monty Python – zwei Jahre später zwar das Drehbuch schrieb, der aber mit Brazil wiederum nichts zu tun hatte. Dennoch scheint eine Verbindung zwischen den beiden Filmen in der gemeinsamen Zeit von Cleese und Gilliam und dem gemeinsam erarbeiteten Humor zu liegen.Brazil, zusammengefasst also zu bezeichnen als „eine von Kafka inspirierte Monty Python-Parodie auf George Orwells Roman 1984, erlangte erst mit dem Erscheinen auf VHS den Status als zeitlose, schön schräge Zukunftsutopie. Die Studiobosse verlangten von Gilliam zwar seinerzeit einen etwas hoffnungsvolleren Schluss, doch ließ dieser sich von seiner ursprünglichen Idee nicht abbringen und entführte den Film kurzerhand nach Europa. Dort zeigte er ihn auf diversen Festivals unabhängigen Kritikern, die den Film – bevor er überhaupt in die Kinos kam – als einen der besten des Jahres 1985 feierten. Gilliam konnte Brazil daraufhin so verwirrend und meisterlich auf die Leinwand bringen, wie er nun unlängst in der Reihe „Spurensuche Filmgeschichte“ in der Schaubühne Lindenfels zu bestaunen war.(Lina Dinkla)

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