Russendisko! Wladimir Kaminer liest und legt in Leipzig auf (Stefan Horlitz)

Lesung und „Russendisko“ mit Wladimir Kaminer
Schaubühne Lindenfels
7. August 2004 20.30 Uhr


Der Russe kommt: Wladimir Kaminer liest und legt auf

Wladimir Kaminer hat hierzulande ein kleines Imperium aus netten Büchern, CDs und der mittlerweile in vielen Städten verfügbaren „Russendisko“ gegründet und mit seinen Geschichten aus dem Alltag so etwas wie die Nachfolge eines dazumal recht populären Schriftstellers namens Kishon angetreten. Schreibt von Frau, Kind und Katze, von mehr oder weniger skurrilen Verwandten oder einer Reise. Doch während man Kishon samt bester Ehefrau für seine Eigenbauchpinselei unter vorgetäuschter Selbstironie, das Geschwätz und die endlosen Selbstwiederholungen in Millionenauflagen windelweich schlagen möchte, weicht Kaminer den schlimmsten Fällen aus. Er bläst das Banale nicht zu weit auf und dreht die Schraube des Absurden nie soweit, bis nur noch der Autor lacht. Im Wesentlichen geht es um eine kleine, etwas fremdartige Welt aus Amtsproblemen, absurden Allheilmitteln, Rechtsberatung und Familie, um die Welt des Wladimir Kaminer eben. Schlauberger und Sülzköppe könnten dahinter die formalistisch verfremdete zweite Folie einer fiktionalisierten Spiegelung des psychisch sublimierten Autor-Ichs oder ähnliches vermuten; sollen sie. Kaminer macht sich seine Gedanken, erlebt Dinge und schreibt einen simplen Stil, der weitgehend frei ist von Schweiß und Krampf.

„Nicht literarisch“, „keine Literatur“, „nicht wirklich Großes“, „keine Ambition“ kann Rez. vereinzelte Stimmen nach der Lesung ausmachen. Aber Gott, was ist denn ambitionierter als der Versuch, sich verständlich zu machen. Kaminers neuere Texte neigen mehr zur Reflektion, sein „wissenschaftlicher Aufsatz“ über den russischen politischen Witz und die Tatsache, dass man über Putin nicht mal mehr lachen kann, ist schlicht brillant. Er liest mit einer bronzenen Stimme, der man schwerlich überdrüssig wird, kündigt keine Pointen an, sondern erzählt mit Stoizismus und Geduld.

Zuletzt zeigt sich Kaminer nicht nur als Meister der air trombone, sondern verrät auch noch das Geheimnis eines guten DJs, fernab von jenem grässlichen Popkulturgeschwätz über den gottgleichen Aufleger, schöne Lieder zum Tanzen spielen, ab und zu was ganz anderes und dann schnell wieder zurück. Soso. Das funktioniert auch noch, auch in Leipzig, auch im etwas altmodischen Tanzhallencharme der Schaubühne und zwar bis spät in die Nacht und bis kurz vor der zweistelligen Promillezahl. Russischer Rock, Reggae, Soul, Märsche, Tangos und was die Festplatte hergibt.

Die Zukunft der deutschen Literatur? Ja. Nein. Vielleicht. Ist doch egal.

(Stefan Horlitz)

aktuelle CD: Russensoul, Trikont CD015, ca. ? 16

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