Wer ist das Volk?

Ein Kommentar zur unaufhaltsamenRenaissance der „Montagsdemonstration“

Manchmal tut der Blick aus der Ferne gut. Einem Wahl- und Wohn-Leipziger erschließt sich in diesen Tagen, fernab der Heimat, die überregional geführte Debatte um die allmontägliche Wiederbelebung der geschichtsträchtigen Leipziger Montagsdemonstrationen sehr viel unaufgeregter als den Bürgern vor Ort.

Zumal ich ein waschechter „Wessi“ bin, dem die sächsische Metropole ans Herz gewachsen ist, fehlt die emotionale Betroffenheit, der Mut zum „Entweder-Oder“. Die Bundesregierung hat – unbefangen aus gleichem Grund – trotzdem eine dezidierte Meinung zu den Geschehnissen. Der Bundeswirtschaftsminister erklärt in der „Leipziger Volkszeitung“ den Bürgern der Stadt, wie unsensibel der Gebrauch des Wortes „Montagsdemonstration“ im Hinblick auf die historische Dimension der Ereignisse vom Herbst 1989 sei. Nikolaikirchenpriester Christian Führer möchte dann auch eher vom „Gebet“ als einer „Demonstration“ sprechen. Das ist ein gut und christlich gemeinter Versuch, die Wut der Menschen in geordnete Bahnen zu lenken. Der Minister macht es sich einfacher, und die Medien notieren: den Leipzigern ist das Bewusstsein für die eigene Geschichte abhanden gekommen.

Dabei fällt kein Wort über die Beweggründe der in Verruf geratenen Montagsdemonstranten. Vergessen wird die Tatsache, dass schon im Vorfeld des Irak-Krieges im vergangenen Jahr die Leipziger zu Hunderten, ausgehend von einer gemeinsamen Andacht in der Nikolaikirche, in der Innenstadt zu friedlichem Handeln gemahnten. Man mag einen Unterschied darin sehen wollen, wofür oder wogegen es sich eher zu protestieren lohnt: für die Ablösung eines Unrechtsregimes, gegen einen mörderischen Krieg, gegen Sozialabbau, für mehr soziale Gerechtigkeit. Der Leipziger Schriftsteller Erich Loest trifft diese Abstufung und nennt Demonstrationen gegen „Hartz IV“ im gleichen Sinne „blasphemisch“, wie er die Gebete der Leipziger für eine Ausrichtung der Olympischen Spiele 2012 geißelt.

Man muß nicht einer Meinung sein mit den Demonstrierenden, kann für oder gegen die Arbeitsmarktreformen sein, kann jene Veranstaltungen zur moralischen Erbauung besuchen oder es sein lassen. Der Irrtum liegt in der öffentlichen Wahrnehmung: den Bürgern einer Stadt, die mehr als einmal im positiven Sinne deutsche Geschichte geschrieben hat, ihr Recht auf bürgerlichen Ungehorsam madig zu machen, sie unter den Generalverdacht der Geschichtsverfälschung zu stellen, ist eine Beleidigung für jeden Leipziger. Ob er dort geboren wurde, ist in diesem Moment nebensächlich.

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.