Notizen vom Gipfeltreffen der Weltklasseorchester

Reisebrief aus der Sommer“freiheit“ des Lucerne-Festivals 2004

„Lucerne Festival“ – hervorgegangen aus den traditionellen Internationalen Musikwochen Luzern umfasst das Festival mittlerweile „Lucerne Ostern“, „Lucerne Sommer“ und „Lucerne Piano“. Schwerepunkt liegt auf dem fast 40 Tage währenden „Lucerne Sommer“ – Freiheit ist das Thema des Sommers 2004. Seit 1999 Michael Haefliger als Intendant verantwortlich zeichnet, ist aus den Musikwochen neben der populären Pflege des klassischen Repertoires auch und vor allem eine Plattform für Innovationen respektive zeitgenössische Musik geworden, neu in diesem Jahr der Beginn der „Lucerne Festival Academy“. Jungen Musikern wird unter der künstlerischen Leitung von Pierre Boulez die Möglichkeit geboten, sich für Musik des 20. und 21. Jahrhunderts zu engagieren.

Zum diesjährigen Thema Freiheit kann man in den Pressemitteilungen und Programmheften viel Metaphysisches lesen. Fakt ist, dass solch aufgeladener Begriff gleichermaßen künstlerischer Rahmen als auch Marketinginstrument sein kann. Aber es geht auch profaner: Zum Beispiel sich in Zeiten knapper Kassen die Freiheit zu nehmen, ein Musikfestival mit einem Jahresetat von mehr als 14 Mio. Euro auf die Beine zu stellen. Freiheit gehörte auch dazu als die Stadt Luzern sich 1995 entschloss, sich von Jean Nouvel ein Kultur- und Kongresszentrum für 150 Mio. Euro direkt am Vierwaldstädter See bauen zu lassen. An dem See, wo Richard Wagner sich mit seiner Geliebten Cosima von Bülow 1866 in Tribschen niederließ, um der sozialen Kontrolle entzogen seine Freiheit leben zu können. Überhaupt der See: Im Zentrum der Stadt nimmt er seinen Anfang, um sich zwischen den Bergen durchschlängelnd in unbestimmter Ferne zu verlieren. Glasklares Wasser, dass sich die Fische nur so tummeln. Schwimmen in diesem kostbaren Nass am Strandbad Tribschen – ein Erlebnis ganz persönlicher Freiheit.

Doch zurück zum Musikfestival: Im Zusammenhang mit dem diesjährigen Thema „Freiheit“ ist vielleicht die Frage interessant weshalb man nicht von jeder Konzertaufführung berührt wird und bestenfalls „befreit“ den Saal verlässt. Warum springt der Funke manchmal über und manchmal nicht? Claudio Abbado auch in diesem Jahr wieder Leiter des Luceren Festival Orchestra äußerte sich in einem Interview: „Der schönste Applaus ist das Schweigen nach einem Konzert. Dann hat man ein Publikum berührt.“. Gleichzeitig räumt er ein, die Frage nach dem Warum nicht erklären zu können. Diese Frage stellt man gewöhnlich dem Rezensenten.

Beim Konzert von Honneggers 3. Sinfonie springt der Funke leider nicht über. Mariss Jansons der frischgebackene Chefdirigent des Koninklijk Concertgebouworkest steht am Pult. Themen Honneggers Komposition waren Auflehnung und Kampf gegen Barbarei und Dummheit, der menschliche Drang nach Glück, Friedensliebe und Freiheit. Den ersten Satz bestimmen motivische Sequenzen, bis das Orchester sich zu großformatigen Flächen zusammenfindet. Sehr transparent und zurückhaltend im ersten Satz lässt Mariss Jansons im „De profundis clamavi“ Raum für Emotionen. Tiefe Bässe vermitteln Verzweiflung, doch langsam schimmert Licht, sprich Hoffnung durch die abstrakten Linien, melodische Fragmente, welche sich wie am Ende jeden Satzes zu einer friedvollen Melodie, dem Thema der Taube verdichten. Dritter Satz: ein lastender Marsch – die Opfer fordernde kollektive Dummheit. Auflehnung der Opfer, nach dem dritten Aufschrei verlieren sich die Strukturen, doch die Melodie der Taube setzt ein hoffnungsvolles Ende. Den starken emotionalen Ansatz der Komposition vermag das exzellent klingende Orchester nicht durchweg zu transportieren. Perfekt im Detail, hier vor allem die Bläser mit einem brillanten Spektrum drückender Schwere bis zur singenden Leichtigkeit, ist der Gesamteindruck doch eigentümlich prosaisch. Die Konzertpause im Kultur- und Kongresszentrum dann etwas für die visuellen Sinne: Jean Nouvels Gebäude überhöht die traumhafte Lage am See, der Akt des abendlichen Konzertes erhält etwas Geheimnisvolles. Schmale Kanäle führen vom See zum Haus, später verlaufen sie durch das Haus hindurch. Feuerschalen auf dem Wasser illuminieren die tiefen Einschnitte im Gebäude, irgendwann sorgt auch noch die Nebelmaschine für zusätzliche Effekte. Der große Konzertsaal selbst ist überall präsent. Wie ein kostbares Ei schiebt er sich in die Foyers und Treppenräume, auf der Dachterrasse bricht er schließlich nach außen.

Eine Diskussion über die „unpopuläre moderne Musik“, so eröffnet Corinne Holtz das Künstlergespräch 3. Pierre Boulez lehnt sich bequem im Sessel zurück, das erste Lächeln huscht über sein Gesicht. Susanne von Gutzeit berichtet von Ihrer ersten Begegnung mit der modernen Musik: Im geschwisterlichen Verbund wurden schon im zarten Alter von vier Jahren kleine Stücke einstudiert, welche von den Eltern jeweils mit einer Kugel Eis belohnt wurden. Dass sie nach einem modernen Stück plötzlich vier Kugeln Eis erhielt, hat ihre Neugier geweckt und bis heute nicht ermüden lassen. Diese Gier nach Neuem strahlt dem fast achtzigjährigen Pierre Boulez aus allen Poren. Ungewöhnlich offen kritisiert er Programme seiner Kollegen, welche auch ins Jahr 1904 passen würden. Plausibel erklären weshalb die moderne Musik so zurückhaltend rezipiert wird, kann niemand so richtig, obwohl die Antwort doch vor aller Augen liegt. Mit der klassischen Aufführungspraxis abendlicher Abonnements – Konzerte ist zeitgenössische Musik schwer zu vermitteln. Moderne Musik wie im Rahmen des Lucerne Festival von Gesprächen und öffentlichen Proben begeleitet, lebendig von der Präsenz der Komponisten und Musiker wird sehr offen angenommen, eine durchschnittliche Auslastung von fast 90 % spricht da Bände.

Nach diesem amüsanten nachmittäglichen Auftakt zieht man zur nahe gelegenen Lukaskirche. Das Carmina Quartett ist sichtlich angespannt, was nach dem ersten Ton einem konzentrierten Miteinander weicht. Man hört sich gegenseitig zu, reagiert aufeinander. Im ersten Satz von Beethovens Streichquartett führt das zu eigentümlichen Akzenten im Tempo, wenn sich das Andante spielerisch im Allegro auflöst. Wesentliche Impulse gibt immer wieder Wendy Champney an der Viola, auch bei der heutigen Uraufführung. Ein flächiges Motiv eröffnet Zimmerlins 2. Streichquartett, welches in der Auseinandersetzung mit Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien entstanden ist. Rilke beschäftigt sich in seinen Elegien mit der Begrenztheit der menschlichen Wahrnehmung. Diese Begrenztheit wird zu Beginn erstmal konstatiert – flächiges Miteinander, im zweiten Teil brechen die einzelnen Instrumente aus. Wie bei Rilke der Versuch dem gegebenen Korsett des menschlichen Erkennens zu entfliehen. Dann doch wieder Einsicht, welche in staunende Liebe in das menschliche Dasein mündet. Musikalisch werden jetzt assoziative Linien sichtbar kontrastiert vom pizzicato des Cellos. Eine fröhliche Melodie begleitet einem nach dem plötzlichen Ende in die Pause. Danach wird Schumanns Freiheit ein Streichquartett mit einem Klavier zu kombinieren heute leider nicht deutlich. Wieder ist es die Viola, die es vermag Spannung zu erzeugen und Mitsuko Uchida am Klavier zu mehr Inspiration antreibt.

Fünf „orchestra-in-residence“: das Koninklijk Concertgebouworkest, das Cleveland Orchestra, die Staatskapelle Berlin, die Wiener Philharmonikern und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, daneben Gastspiele des NDR – Sinfonieorchesters, der Münchner Symphoniker oder anderer namhafter Solisten und natürlich das Lucerne Fetsival Orchestra unter Claudio Abbado – wahrhaft ein klassisches Gipfeltreffen in Luzern. Die Erweiterung um die Lucerne Festival Academy, an der 120 junge Musikern in diesem Amalgan verschiedenster künstlerischer Einflüsse Mut gemacht wird, sich über die in den Musikhochschulen geforderte Beschäftigung mit dem klassischen Erbe mit zeitgenössischer Musik zu beschäftigen, ist der wahre Höhepunkt diese Sommers. Oder um zum Schluss noch mal Pierre Boulez zu zitieren: „die einseitige Fokussierung des Musiklebens auf das klassische Erbe ist der Tod der Kunst“.

Sinfoniekonzert 24, Freitag, 10. 9. 2004, 19.30 Uhr
Luzern Kultur und Kongresszentrum – Konzertsaal
Koninklijk Concertgebouworkest – Mariss Jansons

Arthur Honegger (1892-1955)
Sinfonie Nr. 3 „Lithurgique“ (1945 / 46)
Dies irae. Allegro marcato
De profundis clamavi. Adagio
Dona nobis pacem. Andante con moto

Richard Strauss (1864-1949)
Ein Heldenleben op. 40
Tondichtung für grosses Orchester (1898)
Der Held
Des Helden Widersacher
Des Helden Gefährtin
Des Helden Walstatt
Des Helden Friedenswerke
Des Helden Weltflucht und Vollendung

Künstlergespräch 3, Samstag, 11. 9. 2004, 14.00 Uhr
Luzern Kultur und Kongresszentrum – Kleiner Saal
Pierre Boulez, künstlerischer Leiter Lucerne Festival Academy
Susanne von Gutzeit, Violine – Teilnehmerin Lucerne Festival Academy
Michael Wendeberg, Dozent Festival Academy Lucerne ( Ensembles Intercontemporain )
Corinne Holtz, Moderation

Kammermusik 9, Samstag, 11. 9. 2004, 16.00 Uhr
Luzern Lukaskirche

Carmina Quartett
Ludwig van Beethoven (1770-1827)
Streichquartett C – Dur op. 59/3 (1804-1806)
Introduzione. Andante con moto – Allegro vivace
Andante con moto quasi Allegretto
Menuezzo. Grazioso
Allegro con molto

Alfred Zimmerlin (geb. 1955)
2. Streichquartett „… Mit kleinen Wellen an jedem Blattrand
( wie eines Windes Lächeln )…“
für 2 Violine, Viola, Violoncello
Uraufführung

Robert Schumann (1810-1856)
Klavierquintett Es – Dur op. 44 (1842)
Allegro brillante
In modo d´una marcia
Scherzo. Molto vivace
Finale. Allegro ma non troppo


Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.