Menschen – Landschaften

Volker-Koepp-Retrospektive auf dem 47. Leipziger Dokfestival

Elsbeth in „Leben in Wittstock“

Für Koepps Filme muss man sich Zeit nehmen, sie bedürfen des Übens im Zuhören. Wem das gelingt, der wird belohnt mit großen Erzählungen, die das Leben schrieb, ein Leben geprägt von bewegten Zeiten und Landschaften, so wie jene von den zwei unvergesslichen jüdischen Czernowitzern Herr Zwilling und Frau Zuckermann. Sie sind die vielleicht bekanntesten Protagonisten aus Volker Koepps bereits über 50 Filme umfassendem Werk, in dem er Menschen aufsuchte, die ihr scheinbar schlichtes Leben einer neugierigen, nicht selten Sinn suchenden Nachwelt überliefern. Hinter Koepps Filmen verbergen sich nicht nur individuelle Portraits von Lebenswegen im Umgang mit allerhand Schwierigkeiten oder lebende Beweise unfassbarer Geschichte. Sie selbst sind Ausdruck und Angebot einer Lebenseinstellung.

Das Dokfestival tat gut daran, in der bewährten Zusammenarbeit mit dem Bundesarchiv-Filmarchiv diesen bedeutenden deutschen Dokumentarfilmer aus Anlass seines 60. Geburtstags mit einer 30 Filme umfassenden Retrospektive zu würdigen, zu der er persönlich stets zugegen war. Wenn über Retrospektiven auch meistens nur vorab und wie über ein schmückendes Beiwerk eines Festivals berichtet wird, so fällt doch zweifellos ein neues Licht auf die Filme, die wie in diesem Fall zum Teil über Jahre hinweg in den Archiven schlummerten, wenn sie nun auf großer Leinwand (wieder-) erscheinen, und auch ein junges Publikum sich neu mit ihnen auseinandersetzt. Wie erscheinen Koepps Filme heute?

Volker Koepp (Foto: Marcus Reichmann, DOK Leipzig)

Der in Stettin geborene Volker Koepp machte zunächst eine Lehre als Maschinenschlosser, bevor er über dem Umweg eines Studiums an der TU Dresden 1966 an die Filmhochschule in Babelsberg gelangte. Schon früh sollte er die Erfahrung mit den Zensoren machen. Später erfährt er, dass er bereits damals im Visier der Stasi stand, die seinen Umgang mit Konrad Weiß und Thomas Brasch argwöhnisch beäugte. Nach seiner ersten Übung, Sommergäste bei Majakowski, in der er zusammen mit Alexander Ziebell eine „abenteuerliche“, erfrischend unbefangene Sommerreise in die georgische Heimat des Dichters dokumentiert, die eigentlich von freigeistig sozialistischem Esprit nur so strotzt, muss Koepp eine Strafarbeit abliefern, um nicht exmatriuliert zu werden. Wir haben schon eine ganze Stadt gebaut zeigt den (geschönten) Arbeitsalltag der Bauarbeiter-Brigade „Hanns Eisler“. In seinem Tagebuch heißt es: „Immerhin fand ich mit jener ?Strafarbeit‘ eine meiner thematischen Hauptlinien: Filme über so genannte einfache Leute zu machen.“ In Gustav J. entdeckt Koepp mit diesem Motiv für den Dokumentarfilm einen Typ, „den es bis dahin nicht gegeben hat.“, wie es Eduard Schreiber bemerkt. Gustav J. ist ein alter Mann, gelernter Schmied, der seine bewegte Lebensgeschichte erzählt, die ihn „von Ostpreußen in die russische Steppe, von den Wolgaschiffen wieder nach Ostpreußen und auf verschlungenen Wegen nach Bad Doberan“ verschlug. Eine Geschichte, die in Koepps Kurzfilm ungeahnt aufregend, spannend und liebevoll dokumentiert ist.

Es ist Koepps immer wieder zuteil gewordenes, nicht selbstverständliches Glück, solchen Menschen zu begegnen, die Schatzkammern an Erfahrungen in sich tragen und diese vor laufender Kamera „in ihrer Sprache umsetzen, eine Sprache voller Ehrlichkeit, Präzision und unendlich vieler Hinweise auf den sozialen Hintergrund“, wie Koepp sagt. Häufig sind es Geschichten von Krieg, Flucht und Vertreibung, und gemeinsam ist ihnen, wie Werner Dütsch in der Podiumsdiskussion so treffend formulierte, dass diese Leute gewissermaßen „gegen die Geschichte“ leben, entgegen aller Statistik die widrigsten Umstände überlebten. Und trotzdem strahlen sie letztlich beinahe immer eine überwältigende Zuversicht aus wie die Holocaustüberlebende Frau Zuckermann, die als Deutsche von den Sowjets unterdrückte Renate in Kuhrische Nehrung, Gustav J. oder der Energie geladene Herr von Arnim in Uckermark. Dabei erweitert sich Koepps territorialer Blick über die Jahre von Ostdeutschland über (Ost-) Europa bis nach Amerika, wo er in seinem aktuellen Film Dieses Jahr in Czernowitz, der im Sommer im Kino anlief, den von dort stammenden Harvey Keitel aufsucht.

Auffällig einprägsam sind die Landschaften – in den späteren Filmen atemberaubend eingefangen von Kameramann Thomas Plenert. Ihr Aussehen wandelt sich mit dem Lauf der Geschichte wie das Leben der Menschen – meistens von einer Agraridylle zu einer industriell geprägten Landwirtschaft. Und oftmals scheint es, wie der Titel der Retrospektive bereits beinhaltet, dass sich die Menschen und Landschaften gegenseitig formen, sich in den Gesichtern und Charakteren immer auch ein ganzer Landstrich widerspiegelt – und sei es das charakteristische architektonische Antlitz Czernowitz‘, das seine Spuren im mindestens ebenso markanten Herrn Zwilling hinterließ, dessen Vorfahren wiederum der Stadt einmal ihr Äußeres gaben.

Koepp ist Spurensucher, vor allem im Geschichts-Sammelsurium der DDR. „Wie war denn das eigentlich in der DDR?“, fragt er den Bauarbeiter, den Münz- und den Spielzeugsammler. „Is merkwürdig, wie schnell man das vergisst“, sagt Koepp mit seiner typisch warmen Stimme, wie immer nicht als Interviewer, sondern vielmehr als anregender Nachfrager aus dem Hintergrund zu der Frau, die die Geldscheine der „Mark der DDR“ zählt. Sammelsurium – ein ostelbischer Kulturfilm ist Koepps skurril-melancholischer Abschied von der DDR. „Wie war denn das eigentlich in der DDR?“ – Die ehrlichsten Antworten gibt uns Koepp heute selbst: mit seinen vielen DEFA-Produktionen, in denen er die Menschen in ihrem Arbeitsalltag aufsuchte wie im Ziegeleibetrieb in der Märkischen Trilogie, die Bergarbeiter beim lebensgefährlichen Erzabbau zur Urangewinnung in Wismut oder unvergleichlich und lange nachwirkend in der 22 Jahre umspannenden Langzeitdokumentation: dem Wittstock-Zyklus. Vier Kurzfilme und drei abendfüllende Filme mit insgesamt sechseinhalb Stunden Länge, angefangen 1975 mit Mädchen in Wittstock. Darin besucht Koepp zusammen mit seinem Team – darunter später Kameramann Christian Lehmann, der für die sensiblen Portraitaufnahmen sorgte – die jungen Arbeiterinnen des Textil-Kombinats „Obertrikotagenwerk Ernst Lück“. Wie ein Freund begleitet er sie über die vielen Jahre hinweg – vor allem Elsbeth, genannt Stupsi, Edith und Renate. Er besucht sie während ihrer Lehrzeit als Jugendliche mit all ihren Träumen, während der Angestelltenzeit und dem „Ernst des Lebens“, nach der Gründung eigener Familien, bis zum Ende der DDR samt des Obertrikotagenwerks und noch darüber hinaus während der Zeit der Arbeitslosigkeit und der neuzeitlichen Jobs. Käme der Wittstock-Zyklus nicht so wundersam unprätentiös daher, wäre für ihn schon längst die Bezeichnung Meisterwerk geläufig.

Im Wittstock-Zyklus findet man die Essenz Koeppscher Filme. Zunächst: Der neugierige Blick, der sensorisch die Lebensreflektionen seiner Menschen aufspürt und damit weit tiefer geht und kritischer ist, als es dem Politbüro lieb war. Des Weiteren: Die selten in Dokumentationen so bedingungslose Souveränität der Protagonisten, die nicht von autoritären Interviewern gedrängt werden, sondern den Film sogar gleichberechtigt mitgestalten. Koepp lässt ihnen alle Zeit der Welt, zeigt eine Engelsgeduld, vermutlich ein Grund, weshalb seine Filme immer länger werden, schreibt Peter W. Jansen in der Begleitbroschüre. Koepp ist so beeindruckend vorsichtig, dass es zum Schmunzeln ist, wenn Annerose Richter, seine geniale Dramaturgin, vor dem Publikum auf dem Dokfestival die Anekdote erzählt, in der Koepp auch schon mal einen Fuß in die Tür stellte, um ein Gespräch wieder aufzunehmen. Daher darf Koepp auch solche Fragen stellen – was der Sinn des Lebens sei -, denn seine Protagonisten sind weniger Interviewte als vertraute Freunde, beinahe erotisch eng, Freundschaften, die privat bis heute weiterexistieren. Solche Nähe, Liebe und Respekt zu den Menschen wirkt heute fast wie ein Märchen und ist eine heimliche Antwort auf die Inszenierungs- und Eskalierungstendenzen in den Dokumentarfilmen unserer Zeit. Ein drittes Merkmal Koeppscher Filme: die Verbindlichkeit ihres Machers. Bis auf einige frühe, unglückliche Ausnahmen spricht Koepp selbst aus dem Off, ist mit der Stimme selbst als Mensch präsent, gibt verlässliche Auskunft über Ort und Zeit und persönlich verbürgte Geschichte: „Wittstock, märkische Kleinstadt im Norden Brandenburgs. Slawische Besiedlung nach der Völkerwanderung, Christianisierung, Kirchenbau. 1244 ist Wittstock das erste Mal ummauert und dann, bis zum 16. Jahrhundert, Sitz der Bischöfe von Havelberg. Die große Schlacht von 1636, Schweden und Pest. Ackerbürgerstadt und Streusandbüchse, Handwerker, Schankwirte. Das 19. Jahrhundert mit einer Tuchfabrik, das 20. mit Kasernen und Übungsplätzen. Wittstock an der Dosse. In Brandenburg. In Preußen. In der DDR.“ (Wittstock, Wittstock) „Man kann ihn für alles zur Rechenschaft ziehen.“, schreibt Jansen so treffend, „Es ist eine Mär und ein Irrglaube, dass der Dokumentarfilm objektiv sein könne, fern von der Verbindlichkeit, den Gefühlen und Emotionen, der Überzeugung des Autors. Denn das ist das Geheimnis ihrer Dialektik, dass sie umso glaubwürdiger sind, je weniger sie vorgeben, objektiv zu sein, und je unablösbarer sie von der Person ihres Autors sind.“ Daher sind Koepps Filme im Blick auf die DDR so viel ergiebiger als die nachträglich zusammengeschnittenen Dokumentationen, die nun die „wahre“ DDR reinszenieren wollen, geschweige denn die sinnentleerten „Ostalgie“-Shows. Es wäre zu wünschen, dass der Wittstock-Zyklus nicht zum letzten Mal auf einer Leipziger Kinoleinwand flackerte, denn hier gehört es hin, nicht in den Fernseher – das große Kino des Volker Koepp.

Gerade weil Koepps Filme so persönlich sind, lässt sich an ihnen zugleich ein Weltbild ablesen. Koepp ist ein Träumer zyklischen Glücks im Kreislauf des Lebens. So häufig seine Menschen auch eine Geschichte vom bittersten Leid erzählen, ist ihre Botschaft doch – ausgenommen von Wismut – eine hoffnungsvolle. Häufig sind es Frauen, die bei Koepp im Zentrum stehen, Mädchen, die die ganze Schönheit der Jugend in sich tragen, später Frauen, deren Schönheit aus den Erfahrungen, der Reife des Alters und ihrem unerschütterlichen Glauben an das Gute entspringt, weil sie diejenigen sind, die die Familien verbinden und unmittelbar bei ihren Kindern die Schönheit der Jugend wiederfinden – vor allem wenn man wie Rosa Roth-Zuckermann zuvor eine ganze Familie verloren hat. Durch die Verbindlichkeit mit einer Landschaft, zeigt man Verbindlichkeit mit einer Geschichte, und diese bedarf der Verbindlichkeit der Generationen. In Koepps Filmen gibt es immer zugleich die Alten und die Jungen – mit all den Problemen dazwischen, aber auch das ist gut so. Auf diese Weise sind Koepps Filme immer auch Zeugnis seiner eigenen Reflexion über Heimat. Vielleicht ist sie im weitesten Sinne zu verstehen als eine Art von Verbindlichkeit.

Es gibt eine Szene in Uckermark, in der Herr von Arnim mit einem Jungen redet, der meint, mit den Alten käme er nicht klar wegen seiner langen Haare. Der alte Mann aber antwortet ihm, dass ihm nichts so egal wäre wie die Länge der Haare, das würde sich sowieso ständig ändern. Wichtiger sei ihm, zuzuhören, was der Andere zu sagen habe und ihm beim Wort zu nehmen. Als zum Abschluss der Retrospektive noch einmal im vollen Kinosaal Herr Zwilling und Frau Zuckermann zu sehen war, bei dessen Berlinale-Premiere einst das Publikum durch die vielen komischen Szenen drohte, in ein einziges Gelächter zu verfallen, da war in Leipzig am Ende der Begegnung mit Volker Koepp und seinem Werk nur ein leises Schmunzeln zu hören und die große Freude zu spüren, dass man von Koepp gelernt hat zuzuhören.

47. Internationales Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm

19.-24. Oktober 2004


Filmographie Volker Koepp (Auswahl):

1971 Schuldner
1972 Grüße aus Sarmatien
1975 Mädchen in Wittstock
1976 Das weite Feld; Wieder in Wittstock
1978 Am Fluß; Wittstock III
1979 Tag für Tag
1983 Alle Tiere sind schon da
1984 Leben in Wittstock
1985 An der Unstrut
1988/89 Märkische Ziegel
1989/90 Arkona-Rethra-Vineta
1990 Märkische Heide, Märkischer Sand
1992 Neues in Wittstock
1995 Kalte Heimat
1996 Fremde Ufer
1997 Wittstock, Wittstock
1999 Herr Zwilling und Frau Zuckermann
2001 Kurische Nehrung
2002 Uckermark
2004 Dieses Jahr in Czernowitz


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