Buchempfehlung: Amos Oz erzählt alles über seine Mutter (Steffen Lehmann)

Amos Oz: Eine Geschichte von Liebe und Finsternis
Roman. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 765 Seiten, 26,80 Euro.

Im Mittag ihrer Tage

„Und sogar damals, in Tel Arsa, an jenem Schabbat morgen, als Mutter an einem Baum gelehnt saß und Vater und ich unsere Köpfe auf ihre Knie legten, auf jedem Knie ein Kopf, und Mutter uns beide streichelte, sogar in jenem Augenblick, der mir der kostbarste aller Momente meiner ganzen Kindheit ist, trennten uns tausend Jahre der Finsternis.“ Mit seinem neuen Roman „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ versucht Amos Oz diese Finsternis aufzuhellen. Nicht allein für den Leser, sondern vor allem für sich.

Die Geschichte seiner Familie ist vom Freitod seiner Mutter überschattet. Über seine Mutter habe er kaum jemals gesprochen. Nicht mit seinem Vater, seiner Frau und seinen Kindern, schreibt Oz. Mit den über 700 Seiten beendet er sein über fünfzigjähriges Schweigen. Oz versucht eine Erklärung für die Tragödie in seiner Familiengeschichte zu finden. Wenn auch sein Roman eine Familiengeschichte ist, so ist die Hinwendung zum Persönlichen nichts das Entscheidende für die Akzeptanz bei Publikum. Mit „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ geht Oz der Frage nach, ob es eine Erklärung in der Vergangenheit für die Tragödie in der Gegenwart gibt. Oz versteht es meisterhaft, mit liebevollen Portraits ein Bild der Immigranten-Gemeinde zu zeichnen, die politischen Auseinandersetzungen zu erzählen und dabei seine Familiengeschichte nicht aus dem Blick zu verlieren. Er schreibt von den Tücken des Alltags, wie alle Hoffnungen der Eltern auf Oz projiziert wurden.

Das Buch ist eine fein abgestimmte Mischung aus Fiktion, Religion und Familiengeschichte. Vor allem ist es aber eines nicht: ein Geschichtsbuch. Oz in einem Interview im Januar 2003: „Mir ist deutlich geworden, dass ich der Sohn von Leuten bin, die Europa liebten und sich selber als Europäer ansahen. Zu einer Zeit, als noch niemand sonst Europäer war. Heute weiß ich, dass die Gefühle meiner Eltern als unerwiderte Liebe beschrieben werden können. Ich wusste es nicht als ein Kind. Sie machten ein Geheimnis daraus. Ja, sie liebten europäisches Erbe, die Musik, Geschichte, Literatur, Architektur und Landschaft, aber niemand liebte sie zurück. Jeder andere war deutsch oder russisch oder ein bulgarischer Patriot. Und ich habe ihre Liebe und ihre Wut geerbt, diese gemischten Gefühle, diese Ambivalenz und Enttäuschung.“

Geboren als Sohn russisch-polnischer Einwanderer wächst Oz als Amos Klausner in einfachen Verhältnissen im Jerusalem der 1940er Jahre auf. Es sind bewegte Zeiten. Die britische Mandatszeit in Palästina neigt sich dem Ende zu. Die Gründung des Staates Israel 1948 steht kurz bevor. Sein Vater, Bruder eines berühmten Professors und nicht weniger gebildet, findet mit Mühe eine einfache Stellung in der Zeitschriftenabteilung der Nationalbibliothek. Damals gab es mehr berühmte Professoren und Gelehrte in Jerusalem als Studenten. Über das Hinwegsehen des akademischen Betriebs ist der Vater Zeit seines Lebens nicht hinweggekommen. Im Alter von fünfzig Jahren promoviert er noch an der Universität von London. Doch auch der Doktortitel verschafft ihm nicht die erhoffte Professur an einer der neu gegründeten Universitäten. Die Kindheit und Schulzeit seiner Mutter lässt Oz von deren Schwester Shania erzählen. Die wachsende Angst der jüdischen Bevölkerung vor Pogromen. Als kaum nachvollziehbar erscheint die damals verbreitete Hoffnung auf Rettung vor Stalin durch Hitlers Armeen. In Prag studiert die Mutter Geschichte, erlebt den wachsenden Antisemitismus und kann noch rechtzeitig nach Palästina auswandern.

Doch die Ankunft im gelobten Land ist weniger verheißungsvoll als erhofft. Es ist die Enttäuschung über ein Israel, das vielleicht nie so existierte wie es erträumt wurde, die als möglicher Grund für den Selbstmord der Mutter durchschimmert. Schwer wiegt der Verlust der Heimat und die Erkenntnis, dass viele Familienangehörige und Verwandte im Holocaust umkamen. Oder sind es die vermeintlichen Affären des Vaters, die an einigen Stellen des Buches angesprochen werden. Bewegend schreibt Oz von der Zeit nach dem Tod der Mutter. Die langsame Entfremdung vom Vater, die Rebellion gegen seine Ansichten und die Hinwendung zu den Ideen der Kibbuz-Bewegung. Mit 15 geht der Autor in den Kibbuz Hulda und nimmt den Namen Oz (hebräisch: Stärke) an. Von der Mutter sprechen sie nicht mehr. An einem Tag wirft der Vater all ihre Sachen weg. Ein Jahr später entdeckt er noch eine Haarklammer. Auch sie landet im Mülleimer. Am Beginn des vorletzten Kapitels schreibt Oz: „Achtunddreißig Jahre war meine Mutter bei ihrem Tod. In meinem heutigen Alter könnte ich schon ihr Vater sein.“ Und leise klingt ein Vorwurf über ihren Tod noch mit.

(Steffen Lehmann)

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