Himmlischer Einstieg

Dirigent Riccardo Chailly besteht seine Feuertaufe mit Verdis „Requiem” zusammen mit dem Gewandhausorchester

Auch dieser 9. November ist ein denkwürdiger Tag. Riccardo Chailly hätte kein passenderes Datum für seine musikalische Feuerprobe in Leipzig wählen können als diesen Schicksalstag der deutschen Geschichte. Natürlich schwingen all die blutigen, traumatischen Erinnerungen an 1919, 1938 und 1989 mit, wenn der große Italiener ausgerechnet mit Verdis „Requiem“ an den letzten Dingen der Kunst und des Lebens rüttelt. Und das ist denn auch die unverwechselbare Größe dieses Abends: die Ernsthaftigkeit, der Tiefsinn, die aufrichtige Würde der Könnerschaft, mit der Chailly Verdis Hoheslied auf die Macht und Ohnmacht des Todes anpackt.

Natürlich ist dieser Mann ein Maestro, ein echter Künstler, der Orchester, Chor, Solisten wie ein Orakel beherrscht, das immerfort Wahrheit sprechen will. So einen hohen Anspruch zu verfolgen, mit diesem Elan, mit dieser Zielstrebigkeit, dieser phänomenalen, überwältigenden Treffsicherheit ist nur wirklich großen Musikern vorbehalten – und es ist ein ebenso großes Geschenk, dass Leipzig von der Kraft eines solchen Musik-Apolls profitieren soll.

Chailly haucht dem Requiem Leben ein, mit seinen grazilen Bewegungen, mit der zauberhaften Übetragung seines Geistes auf alle Beteiligten. Er formt dieses erschütternde Emotionskonglomerat zu einem organischen Ganzen, zu einem Lebewesen mit eigenem Atem, eigenem Körper, als wäre es ein feinnervig strukturiertes, aber beseeltes Geschöpf. Dass diese Illusion einer inspirierten Ordnung augenblicklich so reell erscheint, liegt daran, dass dieser Körper reagiert und willig dem Geist seines Kreators folgt. Man bekommt einen Eindruck davon, wie viel Potenzial im Gewandhausorchester, im Opernchor, diesmal unterstützt von Sängerinnen und Sängern aus Mailand, schlummert. Chailly nutzt es, um es rückhaltlos zu erschließen. Und dabei steht viel auf dem Spiel. Die vier Solisten Carmela Remigio, Gloria Scalchi, Massimo Giordano und Orlin Anastassov zelebrieren ihre Partien mit einer Sensibilität, Kunstfertigkeit und emotionalen Überzeugungskraft, die einiges relativiert. Das Mäkeln an den kleinen Schwächen sollen andere übernehmen.

Der symbolische Wert dieses Abends ist also beträchtlich und dazu gehört auch, dass der künftige Gewandhauskapellmeister und Generalmusikdirektor die Oper als Aufführungsort seines ersten Auftrittts bestimmte. Chailly hat sich vorgenommen, den ewigen Zweiten am Augustusplatz wieder unter die ersten fünf Häuser in Deutschland zu katapultieren. Doch die Götter sind launisch, wie man weiß.

Guiseppe Verdi: „Messa da Requiem“

Gewandhausorchester
Leitung: Riccardo Chailly

Grosses Concert am 9. November 2004

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