„En Garde”, ein Film von Ayse Polat (Maike Schmidt)

En Garde
Deutschland 2004, 94 Min.
Buch und Regie: Ayse Polat
Darsteller: Maria Kwiatowsky, Pinar Erincin, Luk Piyes, Antje Westermann
Kinostart: 9. Dezember 2004

(Bilder: X Verleih)Alice im Heimatland

Dass das Leben im Grunde keine wirklich einfache Sache ist, hat ja – nun mal ehrlich – auch niemand behauptet. Doch dass die ersten Lebensjahre einem Schutz unterliegen, namens Mama oder Papa, macht es zunächst ein bisschen einfacher, den Weg in diese merkwürdige, oft schwierige, aber immer auch lebenswerte Welt zu wagen.

Bei Alice sieht dies allerdings etwas weniger rosig aus. Sie ist 16 Jahre alt als ihre Großmutter, bei der sie aufgewachsen ist, stirbt. Ihre Mutter ist ein fremder Mensch, der es sehr eilig hat, Alice klarzumachen, dass sie ihr den nötigen Schutzraum nicht bieten kann. Ein Heim ist die Lösung, ein katholisches, aber nettes – so die Mutter. Ganz so nett ist es dann aber doch nicht, denn da sind Martha und Josefine, Alices Zimmergenossinnen, welche ihr Geld und Schrankschlüssel abnehmen und somit klarmachen, dass ab nun das Leben irgendwie noch weniger witzig ist. Alice nimmt es wie es kommt, will unauffällig sein, spricht kaum, passt sich an – wird krank. Die Welt, der sie sich auf stille Art nähern will, wird laut, unerträglich laut. Hyperakusis diagnostizieren die Ärzte, eine Krankheit, welche psychosomatisch ist und erstmal nur mit Hilfe von Ohrstöpseln gelindert werden kann. Auf dem Weg zum Arzt trifft Alice auf Berivan, ein kurdisches Mädchen, das im Heim auf ihren Asylantrag wartet – und damit die anderen nichts von der Krankheit erfahren, hängt sie sich an dieses so andere Mädchen. Bald soll ihre recht erzwungene Bekanntschaft einer Art überlebenswichtigen Freundschaft weichen, die ein ständiges Zusammensein fördert und der Heimleiterin, Schwester Clara, ein Dorn im Auge zu sein scheint. Doch dies ist nicht der einzige Punkt, der die Verbindung stören wird, denn Berivan verliebt sich – aus Zweien wird drei, und dass da immer einer zu viel ist, merkt Alice schnell. Eifersüchtig, ihren Verlust vor Augen, beginnt sie Berivan unter Druck zu setzten, droht ein sie beide verbindendes Geheimnis zu lüften und Berivan damit der Abschiebung preiszugeben. Die Situation eskaliert.

„Warum bist du so?“ fragt Berivan Alice einmal und bekommt keine Antwort, wie auch Schwester Clara niemals die Liste bekommt, um die sie ganz zu Anfang bittet, eine Liste mit Alices Vorlieben und Abneigungen. Keine Meinung, keine Identität scheint dieses Mädchen bilden zu können und doch ist sie präsent und muss lernen, das zu akzeptieren, das als Leben zu sehen. Berivan zeigt ihr, dass niemand so unauffällig sein kann, dass er nicht bemerkt wird. Ihre Berührungen wecken Alice auf, und wenn diese anfangs noch nicht bereit ist, ein Geben zu zeigen, so ist sie dies am Ende des Films. Voller kleiner Metaphern und Bilder scheint dieser Film zu sein, was ihn den gängigen Realitätsbezeugungen anderer Filme enthebt.

So ist die schwierige Mutter -Tochter -Beziehung nicht ein ausgeweidetes Feld voller böser, dramatischer Bezüge in Richtung Pseudorealität, sondern einzig in aufklebbaren Plastikfingernägeln zu finden, die Alice von ihrer Mutter verpasst bekommt, und die sie später befreiend wieder von ihrem Körper lösen kann. Ohne großes Aufsehen, ohne Klischees oder allzu bekannte Stereotype wird ein Stück menschlichen Daseins erzählt, dies so klar begreiflich, dass eine spannend entspannte unbekannte Ebene dieses Genre betreten wird. Der Titel „En Garde“ spielt auf den wöchentlich zu betreibenden Sport hin, den die beiden auf Anlass des Heimes auszuüben haben. Fechten ist ihre Wahl und Fechten ist das Motto des Filmes. En Garde zeigt die Richtung an, die zu gehen ist, nach vorne, jetzt, dem Leben und der Welt entgegen – ein Kampf zwar, doch bestreitbar. Man muss nur in Stellung dafür gehen. Und auch wenn der Film am Ende keine Fortführung einer beginnenden Freundschaft erzählen will, so zeigt er doch etwas, was Hoffnung schöpfen lässt, eine lächelnde Alice, welche sich nicht länger mit dem Blick dem Boden verschreibt, sondern nach oben schaut, der Welt ins Gesicht.

Dieser Film ist der erste abendfüllende Spielfilm der Regisseurin Ayse Polat und er lässt auf mehr hoffen. Ein Mehr, das auch von den bis dato wenig bekannten Darstellerinnen Maria Kwiatowsky und Pinar Erincin zu erwarten ist, welche keine naiv-laienhafte und deshalb authentische Leistung abliefern, sondern klares, präzises Spiel, das tief bewegt und mitreißt. (Maike Schmidt)

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