Neues französisches Kino bei den 10. Französischen Filmtagen (Marie T. Martin)

10. Französische Filmtage 2004, 17.-24.11.2004
Kommunales Kino in der naTo, Passage-Kinos,
Schaubühne Lindenfels, LUX-Kino (Halle)
www.französische-filmtage.deLa vie ne me fait pas peur
F/CH 1999, 105 min.
Regie: Noémie LvovskyDie Geschichte von Marie & Julien
Histoire de Marie et Julien
F/I 2002, 150 min.
Regie: Jaques RivetteDemain on déménage
F 2003, 110 min.
Regie: Chantal Akerman

Bilder : Französische Filmtage
1. La vie ne me fait pas peur
2. Die Geschichte von Marie & Julien
3. Demain on déménageLes nouveaux films français La vie ne me fait pas peur, das Leben macht mir keine Angst, sagt der Titel von Noémie Lvovskys Film. Das Leben könnte einen allerdings in Angst und Schrecken versetzen, wenn man Eltern hätte wie die untersetzte Emilie: der Vater singt von nackten Balletttänzerinnen und die weinende Mutter füttert eine Puppe. Zum Glück hat Emilie drei Freundinnen, mit denen sie die Pubertät meistert, von Selbstmordversuchen bis zum ersten Verlieben. La vie ne me fait pas peur ist wie Blättern in einem Fotoalbum, das allen vier Mädchen gehört. In kurzen Episoden versucht der Film das Blitzlichthafte dieser spannungsreichen Lebensphase nachzuempfinden. Manche der überdrehten Szenen sind stark überzeichnet, wirken karikativ, was den Eindruck hinterlässt, die Figuren würden nicht bis ins Letzte ernst genommen. Ein Erzähler hinter dem Ganzen wird spürbar, der sagen will: die Pubertät ist eine schrille Zeit, in der man komische Dinge tut, aber es geht vorbei. Überzeugender wäre es gewesen, ganz bei den Mädchen zu bleiben, für die alles bitterernst ist. Es sind vier starke Darstellerinnen, die Trotz, Verzweiflung, Zorn und Verletzlichkeit gleich glaubwürdig zeigen. Da, wo der Film kleine Geschichten erzählt und nicht nur atmosphärisch bleibt, ist er am Stärksten: Wenn Emilie die Schuhe ihrer Freundin aus dem Fenster wirft, damit diese bleibt. Wenn Margot in die Töpfe ihrer ätzenden Schwiegermutter spuckt. „Das war wie im richtigen Leben“, ruft jemand beim Abspann. Eines der Mädchen sagt nach dem Abitur: „Es gibt so viel, was ich machen will – aber es gibt keine Berufe dafür.“ In diesem Moment erzählt Lvovsky tatsächlich viel über das Leben.Histoire de Marie et Julien

Die Anfangssequenz in „Histoire de Marie et Julien“ macht es deutlich: hier geht es um Traum und Projektion versus Realität oder um zwei Welten, welcher Art auch immer. Julien, der Marie erst im Traum begegnet, trifft sie kurz darauf tatsächlich, bald darauf wohnen sie zusammen in Juliens Hinterhof-Villa. Die geheimnisvolle Marie räumt fortan fast manisch ein Dachgeschoßzimmer um, und Julien repariert Turmuhren – das ist sein symbolträchtiger Beruf. Verschiedene Uhren im Haus zeigen verschiedene Zeiten und machen deutlich: Hier passieren gegenläufige Geschichten, hier gibt es Welten mit verschiedenen Zeiten. „Wieviel Uhr ist es?“, fragt Julien nach einem Anfall von Gedächtnisschwäche am Schluss des Films. „Our time will come“ antwortet der Schlußsong. Es gibt, so der Ausblick, eine gemeinsame Zeit für die beiden. Der Film ist in Kapitel unterteilt, die die Schwerpunktverschiebung deutlich machen: von Julien zu Marie. Emmanuelle Béart spielt diese Figur sehr mädchenhaft, gibt ihr auch etwas steif Unwirkliches. Marie ist oft abwesend, da gibt es „eine unüberbrückbare Kluft“ zwischen ihr und Julien. Das mädchenhaft Unwirkliche steht im Kontrast zur männlichen Vitalität Juliens, einem schönen Kerl mit „Händen wie ein Metzger“. Die Entscheidung für die Schauspieler ist eine programmatische: Ein Gegensatz – die eine und „die andere Person“, wie Marie später genannt wird. Die Konstellation birgt auch etwas Märchenhaftes in sich: die kleine Verlorene und der beschützende erlösende Mann – genau dieses Motiv greift das Paar selbst in einer erotischen Geschichte auf. In den Liebesszenen finden sie zueinander, da ist Zärtlichkeit und Vitalität vorhanden in dem sonst sehr artifiziellen Zusammensein. Künstliche Dialoge, ein antiquiert wirkendes Interieur und verschiedene stilistische Richtungen sowie bewußt angelegte Verrätselung zwängen die Figuren in ein steifes Korsett. Das wirkt oft angestrengt und anstrengend. Viel wird aufgefahren: die Geschichte, (eine mögliche) des Paares, kriminalistische Elemente durch die motivationslose Erpressung der Madame X, eine übernatürliche Ebene durch die untoten Toten und immer wieder Märchenmotive. Julien selbst erwähnt den Blaubart, seine Katze Nevermore ist in der Tradition der „sehenden Tiere“ zu sehen, es geht letztendlich um Erlösung. Die Tränen, die Maries Wunde heilen, besitzen die Zauberkraft der Liebe. Und ob Marie und die Schwester der Madame X wirklich schon tot sind und erlösungsbedürftig herumgeistern, bleibt fraglich. Vielleicht ist es schlicht die Metapher für eine tiefe Verletzung, die etwas im Inneren getötet hat – was für beide Figuren stimmig wäre.
Denn dass Marie das Zimmer, in dem sie sich erhängt hat, wiedereinrichtet, um sich erneut zu erhängen, ist eine alberne, direkt komische Konstruktion. Zumal es mehrere Male scheitert, und Julien seinerseits zu Strick und Küchenmesser greift. Der haarsträubende Schluss passt zu dem überambitionierten Werk, das in unfreiwilligen Kitsch und Komik abgleitet. In Frankreich hat der Film hymnische Kritiken erhalten. Vielleicht muss man dafür ein ausgesprochener Rivette-Fan sein.Demain on déménage

„Demain on déménage“, schwört sich Charlotte in Chantal Akermans Komödie. Denn ihre Mutter ist gerade mit dem Flügel, den Möbeln und den Erinnerungen an ihren gerade verstorbenen Mann eingezogen. Fortan gibt es Hähnchen zum Essen, denn das mochte er so gerne. Charlotte ist verzweifelt, braucht sie doch gerade jetzt die nötige Ruhe, um ihr pornographisches Buch zu schreiben. Man beschließt, die Wohnung zu verkaufen: Auftritt der skurrilen Interessenten. Aus dieser Konstellation schlägt Chantal Akerman alles heraus, was herauszuholen ist: es wird in die Tasten gehauen, getanzt, sich verliebt, es wird sogar ein Kind in der Wohnung geboren. Die Darsteller sehen dem Chaos ungerührt gegenüber, was einen großen Teil der Komik ausmacht. Die spritzigen Dialoge nehmen ungeahnte Wendungen, es gibt eine Reihe von Running-Gags, und Sylvie Testud als trottelig-sensible Schriftstellerin, stets auf der Suche nach der verwertbaren Erotik im Leben, ist wunderbar. Man möchte selbst an der Wohnungstür klingeln und mit ihr einen mikrowellennerwärmten Kaffee trinken. Dass am Schluss bei diesem wahren Happy End kein Wunsch offen bleibt, ist nur konsequent bei diesem Gute-Laune-Film.(Marie T. Martin)

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