Wie man eine Atombombe zerlegt

Die Veröffentlichung des neuen Albums der irischen Band U2

Sonntag nachmittag, Kuchen im Ofen, Kaffeemaschine röchelt und keucht und sonst habe ich nichts zu tun. Telefonklingeln mit dieser gewissen Aufdringlichkeit, so ruft jemand an, der keinen Widerspruch erwartet. „Ja?“ – „Hast Du mal ein paar Minuten Zeit?“. Für gewisse Leute hat man doch immer Zeit. Wenig später landet ein schwarzlackierter rotgestreifter Privathubschrauber auf meinem Dach in Gohlis-Süd und ihm entsteigt ein kurzer Herr mit Sonnenbrille. Mit Handschellen ist an seinen Arm ein Stahlkoffer gefesselt. Wir machen es uns in der Küche bequem, ich schneide den Kuchen auf. Und dann dieser todernste Blick, der sogar die Sonnenbrille durchsticht: In der Hand hält er nun einen Schlüssel, aus reinem Platin gearbeitet. Ein sattes Klicken, und der Koffer springt auf. „Whingggg…“, macht es, wie in Kill Bill, wenn sie die Schwerter ziehen: Auf feinstem persischen Samt liegt eine CD aus reinem Palladium. Sie wiegt bestimmt 150 Gramm. „Was dagegen?“ – „Nein, schmeiß rein, weißt ja, wo die Anlage ist!“ Wir setzen uns. Ich bitte nach 50 Minuten um eine augenblickliche Wiederholung. Er startet die CD ein zweites Mal. Wachsam blickt er mich an: „Und?“ – „Schön, doch, sehr schön! Habt Ihr gut hingekriegt! Kann ich mir die brennen?“ – „Mach ma, aber nicht weitergeben, ok?“ – „Was denkst Du denn von mir…ich hör mir das jetzt alles in Ruhe an, komm am Wochenende nochmal wieder und dann setzen wir uns hin, ja.“ Der Hubschrauber hebt ab und donnert hinfort, gen Irland. Ich klettere zurück, schiebe mir noch ein Stück Kuchen in den Mund, schalte das Telefon aus, ziehe die Rolläden runter und höre zu.

Die neue U2!! Drei Jahre Aufnahmen, fünf Produzenten. Knapp siebzehn Minuten Musik im Jahr. Das Weihnachtsgeschäft ist gerettet!

Seit der Hälfte meines Lebens kann ich mich daran erinnern, die Zeit grob nach Erscheinungsdaten neuer U2-Alben eingeteilt zu haben. Im Jahre 2 nach Achtung Baby. Ich liebe diese Band! U2 haben zu den großen Impressionisten des Rock gezählt. U2-Alben bestanden nicht aus Songs, sondern aus Landschaften, aus kleinen Monumentalfilmen über die Schönheit und Unendlichkeit großer Räume, die sich zu einem großen Etwas zusammensetzten und den, der sich darauf einließ, auf die Reise schickten. Das imaginäre Amerika von The Joshua Tree, die vom Morgenrot erleuchtete Vorstellung eines musikalischen Jenseits von The Unforgettable Fire, jener Platte, durch die – wie anders – der Atem Gottes geweht sein mußte. Oder die totale Reizüberflutung jener düsteren Metropole, die Achtung Baby beschwor. Später dann immer verstiegenere, surrealistische Entwürfe, bei denen man sich fragen musste, wie sie in den Pop-Overgrond gelangt waren. Sie ließen zu den Klängen von Lenins Lieblingsmarsch Autos an die Wand fahren und schickten Johnny Cash mit Bibel und Gewehr bewaffnet durch eine psychedelische Landschaft in schreienden Farben. Dazu ließ The Edge seine Gitarre in sechsfachem Echo einsam und tieftraurig von den Soundbergen hallen und klang nicht wie ein Gitarrist, sondern wie ein Orchester. Das war keine Rockmusik, das war die hohe Kunst von Soundscape und Soulscape, mit einem ungebändigten Willen zum Exzeptionellen und zum Experiment. Dann kam All that you can’t leave behind und alles war anders. Hier war eine Band in einem Studio zu hören und sie spielte Popsongs, mit einem müden Lächeln im Mundwinkel und vielen Zigaretten. Zum Großteil nicht schlecht. Reichte mir nicht. Früher war man nach einem guten U2-Song in „another time, another place“. Heute saß man nach dem Ende der Platte immer noch in der Kneipe und trank Bier. Manch einer nannte das „Zurück zu den Wurzeln“, und es war doch nur jener Pub-Rock, mit denen sie bisher nichts zu tun hatten. Was mochte da noch kommen?How to Dismantle an Atomic Bomb ist anders. Gut: Besser als die letzte. Diesem Album merkt man den Willen zur Magie an. Schlecht: Die Magie bleibt oft in reichlich flachen Songstrukturen hängen. Beim Malen mit dem breiten Pinsel geht zuviel Detail verloren. Bonos Gesang und seine Melodien fallen auffällig gegen die Musik ab. Zu viel Zeit mit Papst und Bush verbracht und zuhause gesagt „OK, Jungs, ich geb euch ein paar Stunden…“? Oder zuviel geraucht? Oder zuwenig getrunken? Immer wenn The Edge hörbar das Steuer übernimmt, geschieht Großes. Edges Markenzeichen, diese himmlische, verhallte, leicht verzerrte Gitarre ist wieder da und warum soll der Mann nicht klingen wie er selbst. Das tut besonders den ruhigeren Nummern gut, die in U2-Tradition in Zeitlupe zur Explosion gebracht werden. Liebesliedern von U2 haftete immer etwas Zerbrochenes an. „With or without you“ trug bereits im Titel eine traurige Geschichte, „One“ handelte von Trennung. Auf der Atomic Bomb nimmt „Sometimes you can’t make it on your own“ diesen Platz ein. Langsam hebt es an, langsam wird das Thema eingekreist und unmerklich bis zur Detonation gesteigert. Und so werden diesmal ungezählte erste Küsse zu Bonos Hymne an seinen toten Papa ausgetauscht werden; wer zuhört, hat es mit der schönsten U2-Ballade seit „One“ zu tun, ein Song, den der Papst bei Gelegenheit zumindest seligsprechen sollte. „Crumbs from your table“, zunächst eine Kopie von „Electrical Storm“, hebt plötzlich ab, fährt direkt in den Himmel und endet mit einem dieser Fernchöre, die nur U2 dürfen. „One step closer“ ist eine herbstlich-dunkle Ballade mit Souleinschlag, getragen von Larry Mullen, der sein Schlagzeug in gewohnter Weise nur selten zum Krachmachen gebraucht. Hier klingt es wie ein Herzschlag, der das Ambient-Geschehen am Leben erhält. Doch vieles, zu vieles, hätte von anderen Platten stammen können; U2 sind selbst zu ihrem größten Einfluß geworden. Das heißt nicht, dass sie nur noch mit Formeln um sich werfen. Opener und Single „Vertigo“ ist eine laute, vergnügliche Sache zwischen „The Fly“, „Elevation“ und frühen Songs wie „I will follow“, in drei Minuten mit Wucht auf den Punkt gebracht. „Original of the species“ dagegen ist ohne McCartney-Schmalz als „Trip through your wires“ schon mal besser gewesen, „City of blinding lights“ hieß früher „Ultraviolet“, „A man and a woman“ klingt schal wie eine Sting-B-Seite.

Da liegt sie nun, im Stahlkoffer, mit ihrem merkwürdig uninspirierten Cover und dem schönen Titel. Nicht das versprochene Meisterwerk, nicht das seit zehn Jahren angekündigte explosive Rock n‘ Roll-Album – dazu wird hier zu wenig gesucht und überrascht, aber eine schöne Platte mit vier Glanzlichtern und großer Musik mit großer Geste, eine Platte, auf der alles stimmt. Kein richtiges Abenteuer, keine Reise mit ungewissem Ausgang, kein neuer Ausgangspunkt, eher eine Summe unter dem Strich. Früher wär mir das zu wenig gewesen. Wie sag ich’s nur Bono?

U2 – How to Dismantle an Atomic Bomb

U2:
Bono

The Edge
Adam Clayton
Larry Mullen Jr.

prod. Steve Lillywhite, Daniel Lanois, Brian Eno, Chris Thomas, Nellee Hooper

VÖ 22.11.2004 (U2 Island Records)

Tracklist:
Vertigo
Miracle drug
Sometimes you can’t make it on your own
Love and peace or else
City of blinding lights
All because of you
A man and a woman
Crumbs from your table
One step closer
Original of the species
Yahweh

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