Brechts Erben

Smells like V-Effekt: Das großartige Debüt der „Dresden Dolls”

Bertold Brechts Galilei sagt: „Jeden Tag wird etwas gefunden. Selbst die Hundertjährigen lassen sich noch von den Jungen ins Ohr schreien, was Neues entdeckt wurde. Da ist schon viel gefunden, aber da ist mehr, was noch gefunden werden kann.“ The Dresden Dolls sagen: „So ist es.“ Bester Beweis sind The Dresden Dolls selbst. Als Punkband ohne Gitarren, als Brecht-Verehrer ohne Illusions-Aversion, als Schauspieler ohne Künstlichkeit sind sie – Ohren auf, Hundertjährige! – eine neue Art von Band. Amanda Palmer und Brian Viglione aus Boston sind The Dresden Dolls, und so wie sie heißen, klingen sie auch: Nach Vorkriegs-Chic, Spieluhrmusik, Nachtclub-Entertainment, braunstichigen Dresden-’45-Bildern und (jaaaa, da ist ein The im Bandnamen) Rock’n’Roll.

Man muss sich fragen, ob das ernstzunehmen ist. Diese Band, diese Musik. Die „Wir sind neu, wir sind anders“-Verkündung nervt, sobald sie auch nur im entferntesten aufgesetzt wird, nur noch, und mit Damals-Verherrlichung beeindrucken zu wollen, ist schon ganz anderen Musikern schlecht bekommen. Wenigstens aber die Sache mit den Instrumenten ist bei den Dresden Dolls definitiv ernstzunehmen: Percussion, Klavier und Gesang, das war’s. Gewagt, ist doch die Gitarre für die Rockmusik gemeinhin, was der Motor für’s Auto, der Regisseur für den Film, der Verfremdungs-Effekt für’s Brechttheater ist – unentbehrlich. Umso erstaunlicher, dass es bei dem Ostküsten-Duo auch ohne geht, und gar nicht mal schlecht.

Man höre zum Beispiel Coin-Operated Boy, hierzulande allein schon durch die Veröffentlichung auf dem monatlichen Spex-Sampler zu einiger Bekanntheit gelangt. Eine Mischung aus großer Oper, kleinem Cabaret und Kinderlied mit einer Melodie, die einem tagelang im Ohr bleibt. Amanda Palmer flüstert, schreit, spricht, murmelt, haucht, singt, schluchzt undsoweiter in sämtlichen vorstellbaren Nuancen, und wenn man sie und Brian Viglione im Video zum Song sieht – was allerdings aufgrund der Einstellung der Sendung Fast Forward zum Jahresende bald sehr unwahrscheinlich werden dürfte, besten Dank, Viacom! -, bekommt der Begriff „Musik-Theater“ eine ganz neue Bedeutung. Kostümierung ist ein Muss, dauernde Wechsel zwischen laut und leise, wüst und zart bestimmen die Strukturen, die Verunsicherung des Publikums ist kalkuliert (ganz im Sinne Brechts, der zum Beispiel für die Aufführung seines Stücks Trommeln in der Nacht ein Saaltransparent mit der Aufschrift „Glotzt nicht so romantisch!“empfahl).

Was für Coin-Operated Boy gilt, gilt für das ganze Album. Zwar sind nicht alle Lieder so eingängig, zwar wirken manche Lieder übertrieben abgedreht (so etwa Girl Anachronism, das in der Bandinfo anmaßender Weise in seiner Bedeutung mit Creep von Radiohead gleichgesetzt wird), aber schon für Titel wie Half Jack oder The Jeep Song – wo ausnahmsweise eine akustische Gitarre im Spiel ist – lohnt sich die Anschaffung des Albums, das von Martin Bisi, der schon mit Sonic Youth (!) zusammenarbeitete, produziert wurde. The Dresden Dolls nennen ihre Musik „Brechtian Punk Cabaret“, und wem das noch suspekt erscheint, der höre auf Galilei: „Man muss mit der Zeit gehen, meine Herren. Nicht an den Küsten lang, einmal muss man ausfahren.“

CD:The Dresden Dolls:
The Dresden Dolls

Roadrunner Records

VÖ: 6. September 2004

Tracklist:
01 – Good Day
02 – Girl Anachronism
03 – Missed Me
04 – Half Jack
05 – 672
06 – Coin-Operated Boy
07 – Gravity
08 – Bad Habit
09 – The Perfect Fit
10 – The Jeep Song
11 – Slide
12 – Truce

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.