Ernüchternd

Ein Konzert im Gewandhaus mit dem Ensemble Avantgarde spürt der „Musikstadt Leipzig” nach

Das Fragezeichen im Titel des Programms ist natürlich eine Provokation. Aber warum soll man nicht einmal danach fragen, wie es in einer Stadt, deren Ruhm als Musikstadt sich vor allem auf einer großen Vergangenheit gründet, um die Neue Musik bestellt ist? Bach hin, Mendelssohn her – mit dem Titel Musikstadt dürfte sich eigentlich nur schmücken, wer sich auch um die gegenwärtige Musikszene kümmert.

Steffen Schleiermacher präsentiert an diesem Abend Werke verschiedener Leipziger Komponisten (eine Dame ist nicht dabei), wobei sowohl Vertreter der älteren Generation (Thiele, Terzakis) als auch jüngere Tonsetzer (Christian FP Kram, Daniel Smutny, Knut Müller, Thomas Christoph Heyde) zu Wort kommen. Die letzte Formulierung ist übrigens durchaus wörtlich gemeint; denn Schleiermacher lässt es sich nicht nehmen, die „Jugend“ vors Interview-Mikrofon zu zerren. Das Ergebnis dieser an sich guten und bewährten Idee ist ernüchternd: Alle stimmen darin überein, dass es eine „Leipziger Schule“ in der Musik nicht gebe und verweisen auf die Pluralität der persönlichen Kompositionsweisen. Darüber hinaus haben die Herren nicht viel zu sagen. Gegen ihre (selbstverständlich am Publikum vorbei formulierten) verschrobenen Kommentare, die Schleiermacher ihnen wie Würmer aus der Nase ziehen muss, lesen sich die intellektuell überzüchteten Angaben im Programmheft wie ein Groschenheft. Aber nun schnell zur Musik!

Die anspruchsvollste Komposition steht gleich am Anfang: ein Ricercare von Bach, orchestriert von Anton Webern, für Kammerensemble bearbeitet von Schleiermacher. Das Ensemble Avantgarde bringt die Farben dieser Fassung wunderbar zum Leuchten und versteht es glänzend, die motivischen Zusammenhänge herauszuarbeiten. Ein geschickt ausgewähltes Eröffnungsstück, schlägt es doch die Brücke zum Thema „Musikstadt Leipzig“.

Christian FP Krams Komposition „Tropus cum Tropo – Tropi contra Tropis“, deren Titel gleichzeitig eine gute Übung der lateinischen o-Deklination abgeben würde, verbindet die Idee musikalischer Tropierung mit der Zwölftontheorie Matthias Hauers. Daniel Smutnys Zyklus „KammerFedernSchwingenDerFlügel“ ist noch im Entstehen begriffen. Im heutigen Konzert erklingt das Stück „Kammer I“. Es besteht aus einem Klavierpart und einem Zuspielband, welches ebenfalls Klavierklänge enthält. Diese beiden Ebenen treten in Wechselwirkung und entfalten ein assoziatives Feld. Siegfried Thieles „Streichquartett in einem Satz“ führt die klassische Idee des Streichquartetts musikalisch aus, nämlich, dass man bei diesem so etwas wie ein Gespräch zwischen vier Personen höre. Zunächst spielt allerdings jeder eigenwillig für sich. Nach und nach wird der Tonfall versöhnlicher, bis am Schluss alle nur noch einen gemeinsamen Gedanken vortragen. Nun sind sie „still und friedlich und einig“ (Thiele). Pause.

Dimitri Terzakis‘ „Nymphen der Nacht und des Feuers“ ist ebenfalls eine Komposition für Streichquartett, und das Leipziger Streichquartett spielt sie genau so professionell und engagiert wie zuvor das Werk des Kollegen Thiele. Auch Knut Müller greift die griechische Mythologie auf. Sein Werk „Euryale“ hat eine der Gorgonen zum Gegenstand, also eine „Schwester“ der Medusa. Zur Musik schreibt Müller kein Wort, dafür aber ellenlange Hinweise zur Euryale: „Dornseif führt dazu in seinem Hesiodaufsatz von 1937…“. Was für eine Bildung, Respekt! Thomas Christoph Heyde bildet den Abschluss des Programms. Dabei korrespondiert die nichtssagende Musik von „No Name – ein Potpourri des Erinnerns“ auffällig mit dem hanebüchenen Programmhefttext: „Der Titel weißt[!] weniger auf den musikalischen Anspruch oder auf eine verbale Aussageverweigerung hin, als auf den Kontext, der dem Begriff in der Welt des Konsums zukommt […] Es geht um die Vielschichtigkeit (dem[!] Potpourri) des Erwachens vor solchen Dingen, um ein Bewusstwerden, das aber nicht Vorzug, sondern höchstens Anregung sein möchte.“ Und so geht es noch ein gutes Stück weiter – ein Potpourri des Belanglosen!

Alles in allem ist es ernüchternd, was hier unter dem Titel „Musikstadt Leipzig heute?“ geboten wird. Nach diesen Eindrücken ist man kaum gewillt, das Fragezeichen in ein Ausrufezeichen zu verwandeln; eher möchte man ein bis zwei weitere Fragezeichen hinzufügen…

Musikstadt Leipzig heute

2. Konzert der Reihe musica nova

Ensemble Avantgarde, Steffen Schleiermacher

1. Dezember 2004, Gewandhaus, Mendelssohn-Saal


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