Impressionen der 14. euro-scene Leipzig (Steffen Kühn)

euro – scene 2004 „Das Eigene im Gefüge“
14. Festival zeitgenössigen europäischen Theaters

Lettland, Dienstag, 9. 11. 2004, 19.30 Uhr
Schauspielhaus Leipzig, Großer Saal
Neues Theater Riga

„Weiter – Nach Gorki“
Theaterstück nach Maxim Gorkis „Nachtasyl“
Textcollage / Inszenierung Alvis Hermanis, Bühnenbild Inese Pormale, Licht / Video Oskars Plataiskalns, Deutsche Übersetzung und simultan gesprochen Matthias Knoll


Malta, Mittwoch, 10. 11. 2004, 22.30 Uhr
LOFFT, Leipzig Lindenau
Contact Dance Company, Valletta
Tänzerinnen: Rachel Axisa, Fiona Barthet, Erika Bonnici, Yasmine Nuvoli, Gillian Zammit

Tanz. Malta – Deutschlandpremieren
Choreografien von Francesca Abela Tranter
„Zwei Stücke nach Bach“
„Sturm“ nach Musik von John Cage, Bearbeitung und Schlagzeug Renzo Spiteri
„Corpus“ – Film, Musik Ruben Zahra, Regie Stefano Bosco
„Corpus“ – live, Musik Ruben Zahra, Regie Stefano Bosco

Polen, Donnerstag, 11. 11. 2004, 19.30 Uhr
Messepark Markkleeberg Halle 2
Teatr Wspólczesny, Wroclaw

„Gesäubert“ nach einem Text von Sarah Kane
Inszenierung Krzysztof Warlikowski, Musik Pawel Mykietyn, Bühnenbild Malgorzata Szczesniak, Licht Felice Rose

Authentizität oder Aufgehen im westlichen Jetset

Der Ansatz des Festivalteams um die langjährige Leiterin Ann -Elisabeth Wolf ist, sich zur 14. euro – scene mit der Theaterkultur der zehn neuen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zu beschäftigen. Die Auswahl der Compagnies liest man etwas irritiert als ein „who is who“ dieser Länder: „einzige moderne Tanzcompagnie der Slowakei“, „eine der bekanntesten Tanzcompagnien Sloweniens“, „einzige moderene Tanzcompagnie auf Malta“, „gehört zu den bekanntesten polnischen Regisseuren“, „ist heute DER Ort für modernen Tanz in Prag“, „die vier Darsteller gehören zu den besten des Landes“, „eines der führenden freien Theater Sloweniens“, „ist die innovativste Tanzcompagnie in Litauen“, „ist die bekannteste Musikgruppe Maltas“. Viele dieser Künstler sind schon seit Jahren in der westeuropäischen Festivalszene vertreten, so auch Alvis Hermanis, Leiter des Neuen Theaters Riga. Mit seinem Stück „Weiter“ nach Gorkis „Nachtasyl“ war die Compagnie bereits auf der diesjährigen Theaterbiennale in Frankfurt / Wiesbaden vertreten.

„Weiter“ ist der gescheiterte Versuch, Reality Shows im Frontalangriff zu begegnen. Erstarrt wie das Kaninchen vor der Schlange konstatiert Hermanis, dass diese Shows „den Begriff der Arbeit des Theaters- und Filmschauspielers zutiefst erschüttert haben“. Gegen die Eindimensionalität des Fernsehens setzt er in „Weiter“ die Montage verschiedener Ebenen in den Personen: ohne den Anspruch „zu spielen“, behalten die Schauspieler ihre eigenen Persönlichkeiten, die Verwendung von Gorkis Texten eine weitere Ebene. Auf der Bühne eine Box aus Plexiglas. Im Inneren spielen sich allerlei Verrichtungen ab, Stereotype von Aggression, Liebe, Eifersucht, Verzweiflung, alles wird gefilmt und außerhalb der Box projiziert, sowie die Personen auch nur außerhalb ihre Texte sprechen. Mehr als die Verachtung vor den 1999 in den Niederlanden begonnenen „Big Brother“ – Shows können diese Szenen nicht vermitteln. Gerade der Umgang mit Videotechnik scheint auch irgendwie bekannt zu sein, nur dass beispielsweise das von der „Big Art Group“ New York unter Caden Manson entwickelte „Real Time Film“ – Konzept in der Anwendung von simultaner Videotechnik wirklich neue Dimensionen eröffnet. Simultan ist das Stichwort: was Matthias Knoll mit seiner Simultanübersetzung leistet gerät zum Höhepunkt des Abends. Interaktiv begleitet er aus einer vor der Bühne aufgestellten Sprecherkabine die Schauspieler, selbst aktiv eingreifend wird auch schon mal der Gedichtvortrag durch eindeutige Gesten hin zum Rezitierenden beschleunigt. Die Aufführung vermittelt nicht den Anspruch von Authentizität, eher entsteht der Eindruck vom vertrauten Wiedersehen zeitgenössischer westlicher Theatertendenzen. Als Festivalauftakt hätte man sich mehr „Eigenes“ erwartet, zumal das Stück in diesem Jahr bereits in Deutschland zu sehen war.

Die Deutschlandpremiere der „Contact Dance Company“ erfüllt dann die Versprechungen des Festivals. „Tanz. Malta“ sind sehr körperbetonte Szenen, die als „glutvoll und schön“ angekündigten Tänzerinnen faszinieren in ihrer konzentrierten Präsenz. Gerade die bekannte Musik von Bach und Cage vermittelt das Spezifische der Choreografie: Francesca Abela Tranter benutzt die Musik nur als Folie, mit eindeutig herausgearbeiteten Gegensätzen im Bereich des Tempos, der Stimmung sind die Stücke in sich und untereinander strukturiert. Zum Teil sehr abstrakt getanzt erzeugen dann assoziative Bilder sehr spannende Momente. Die von Renzo Spiteri bearbeitete und live aufgeführte Musik von Jahn Cage in „Sturm“ verstärkt den unmittelbaren Eindruck dieses Abends.

Spielort des Stückes „Gesäubert“ ist gleichwohl schon das Vorspiel: Der ehemalige Messepark „agra“ in Leipzig – Markkleeberg liegt verlassen in der kühlen nebligen Novembernacht. Nicht sofort findet man in der Dunkelheit die Halle 2 und den Eingang derselben. Durch Gegenlicht geblendet erreicht man endlich die für die Aufführung auf der riesigen Grundfläche der Halle aufgestellte schwarze Box.
Für das 1998 geschriebene Stück „Cleansed“ hat sich Sarah Kane mehr als drei Jahre Zeit genommen. Herausgekommen ist eine hochverdichtete Geschichte: Extreme Gefühle des Daseins im Spannungsfeld von Verzweiflung und eines tiefen Glaubens an die Liebe. Die bizarre Welt einer psychiatrischen Anstalt wird vom sadistischen Aufseher Tinker beherrscht. Die Personen sind gleichsam seine Folterinstrumente, gegeneinander ausgespielt, zum Verrat verführt oder gezwungen und gnadenlos mit ihrer eigenen Geschichte konfrontiert verlieren sie sich langsam selbst. Verzweifelte und Leidende, die sich nur durch den Glauben an die Liebe ihre Menschlichkeit bewahren können.

Für Regisseur Krzysztof Warlikowski ist dieses Stück so etwas wie ein Elfmeter. Die perfekte Vorlage für sein nach innen gerichtetes Theater der Emotionen und der Sinnlichkeit. Choreografisch sind die einzelnen Szenen äußert konzentriert durchkomponiert: Sprachrhythmus, Körperbewegungen, Musik, Lichtregie, Videoprojektionen alles sitzt perfekt. Klischees werden vermieden und das ist der besondere Verdienst dieser Regiearbeit: ein schwules Pärchen eben nicht tuntenhaft, Folter und Mord eben nicht detailliert heischend, Sex schließlich nicht exhibitionistisch. Endlich ein Lichtblick in der traurigen Realität heutiger Theaterlandschaften, wo der Zuschauer nur Voyeur der sich überschlagenen Bilder der Regieeinfälle ist. Warlikowski schafft mit jeder Szene Rätsel, die in ihrer suggestiven Kraft oft so schön sind, dass sie sich auch ohne Antwort selbst genügen: die Sachen des toten Bruders als letzte Erinnerung direkt auf der eigenen Haut, bewegt und reibt sich die Schwester im Raum: ein getanztes Requiem. Der Inzest zwischen den Geschwistern eine helle Szene der zaghaften Annäherung, im Augenblick des Höhepunktes so überzeugend in unschuldiger Schönheit, dass das Thema Schuld hier völlig absurd erscheint. Die thematische Fülle des Abends halten nicht alle Zuschauer aus, dieser bizarre Reigen aus den Randzonen der Sexualität, aus Erniedrigung, Folter und abgrundtiefer Verzweiflung lässt niemanden ungeschoren davonkommen, was Warlikowski auch von Seiten der Schauspieler zu berichten weiß, etwa dass die Darstellerin in der Peepshow bei den Proben beinahe davongelaufen ist, im Ergebnis gerade diese Szenen mit zum stärksten des Stückes gehören. Das Stück Warlikowskis authentisch und eindrücklich nicht im Sinne der Herkunft und der Beschäftigung mit der polnischen Kultur sondern im persönlichen Einlassen des Regieteams und der Schauspieler auf den verstörenden Stoff Sarah Kanes.


(Steffen Kühn)

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