Marcel Carnés „Kinder des Olymp”: Eine filmische Wiederentdeckung (Carolina Franzen)

Kinder des Olymp
(Les Enfants du Paradis)
Frankreich 1943-45, 189 min., s/w
Regie: Marcel Carné
Drehbuch: Jacques Prévert
Darsteller : Arletty, Jean-Louis Barrault, Pierre Brasseur, Marcel Herrand
Schaubühne Lindenfels, 19. Dezember 2004
(Kinostart der restaurierten Fassung: 9.12.2004)

(Bilder: Atlas Intermedia)Meisterwerk der Filmgeschichte

Paris 1827. Stadt der Kunst. Stadt des Theaters. Stadt der Pantomime. Stadt der erträumten, entdeckten, verlorenen, wiedergefundenen, gescheiterten Liebe. Paris – Stadt des Lebens. Eben das hat Marcel Carné 1943 in Kinder des Olymp grandios eingefangen. Im Mittelpunkt der Szenerie: Garance (Arletty), eine Dame, die der emanzipierten Frau von heute in keinster Weise nachsteht. Schön, kokett, zielstrebig, selbstbewusst, umschwärmt. Die Herren der Schöpfung sind der Pantomime Baptiste Debureau (Jean-Louis Barrault), der Schauspieler Frédéric (Pierre Brasseur), der Gauner Lacenaire (Marcel Herrand) und und und, und alle umwerben sie natürlich Garence. Jeder auf seine Art, aus unterschiedlichen Gründen. Es ist die Verehrung um der Selbstverehrung willen, es ist die Liebe der Eigenliebe, es ist die Liebe der Selbstdarstellung. Und die Liebe um der Liebe, um des anderen willen? Einer verlangt von Garance nur das, was sie selbst geben möchte, der Pantomime Baptiste. Doch was ihn auszeichnet wird ihm zum Verhängnis; er fordert nicht, er liebt nicht mit Worten, er liebt mit Gesten und Blicken. So verliert er schnell den Kampf gegen die ungestümen Nebenbuhler. Es vergehen viele Jahre bis Garance und Baptiste sich wiedersehen. Garance hat sich schließlich für einen Grafen entschieden, hat in England und Schottland gelebt, und Baptiste, immer noch Pantomime, ist verheiratet und Vater. Beider Liebe ist nicht verblasst. Eine gemeinsame Nacht, alle Sehnsüchte werden erfüllt, dann siegt der Geist über das Gefühl. Garance weiß, dass es das gemeinsame Glück nicht geben kann, und Baptiste verliert sie im Freudentrubel des Pariser Karnevals.

Gespielt wird die Mutter aller tragisch-komischen Verstrickungen, Prototyp vieler heutigen, manchmal mehr, häufig weniger gelungenen Liebeskomödien. Doch Carné macht Tragödie, keine Happy-Ends, keine schmalzigen Liebesschwüre, keine platten Plotpoints, sondern kunstvoll unvoraussehbare Handlung. Am Ende siegt die Einsamkeit, offen, ob die Charaktere mit ihr untergehen. Keine Schwarz-Weiß-Malerei, weder der Figuren noch der Handlung. Es ist Baptiste selbst, der sein Schicksal annimmt ohne Kampf, und es ist der Gauner Lacenaire, der einen Mord begeht und sich ergibt, um Schlimmere und Schlimmeres zu vermeiden. Kunstvolle Dialoge (Drehbuch: Jaques Prévert) treiben hier die Handlung voran. Der facettenreiche Charakter Garances weiß den Verehrern einen Spiegel vorzuhalten, macht den Spagat zwischen Distanz und Nähe. Carné inszeniert im Theater des Theaters das Theater auf dem Theater der Lebensbühne. Die Darsteller selbst verweisen auf Shakespeares Othello, verurteilen das Drama und erheben die Tragödie zur wahren Kunst. Natürlich spielt in diesem Zusammenhang der gesellschaftliche Stand eine Rolle. Auf- und Abstieg. Kleindarsteller werden zu angehimmelten Schauspielern, Waisen zu Gräfinnen, Schriftsteller zu Gaunern, und die billigsten Plätze zum Olymp.

Dieser Film, gedreht unter deutscher Okkupation und erst 1947 uraufgeführt, ist ein Muss – kunstvoll, französisch, witzig, und nicht nur für Cinéasten.(Carolina Franzen)

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