Cool Britannia

Warum die besten Platten 2004 von der Insel kommen

Fast hätten wir anglophile Musikfans uns die Neunziger zurückgewünscht. Fast. Damals, als die Jungs von Blur und Oasis und ihre zahlreichen Epigonen mit unbekümmerten Songs voller Kraft und Melodie das alte Europa aufrüttelten, elektronische Rocker wie Fatboy Slim und die Chemical Brothers der gesellschaftlichen Aufbruchstimmung durch New Labour die Musik auf den Leib schrieben. „Buy British“ bewarb man die dazugehörigen CD’s hierzulande, und es hätte nie enden dürfen. Nachdem die Gallagher-Brüder nach mehreren schwachen Alben ihre Süchte fernab der Musik zu kontrollieren versuchen und Blur-Mastermind Damon Albarn wahlweise mit Ethno-Pop oder der fiktiven Band Gorillaz zu reüssieren trachtete, bot das Jahr 2004 die vage Hoffnung, dass eine neue Welle ganz unterschiedlicher britischer Acts den Anspruch auf die Pop-Weltspitze erneut zu untermauern vermag.

Franz Ferdinand: Franz Ferdinand
Domino Recordings

Der Hype um neue Acts ist dabei im Vereinigten Königreich mindestens so wichtig wie die Musik selbst. Als „The Next Big Thing“ wurde zu Beginn des Jahres das Debüt einer Band aus dem schottischen Glasgow angekündigt: Franz Ferdinand sind ehemalige Kunststudenten und sehen auch so aus. Sich nach dem 1914 ermordeten K.u.K.-Thronfolger zu benennen zeugt schon von einiger Chuzpe, in Liedern wie „Darts of Pleasure“ oder „Michael“ deutsche Sprache und Dialekt zu bemühen nicht minder. Doch insgesamt ist es einfach Rockmusik, und zwar richtig gute. Franz Ferdinand kennen ihre Wurzeln und versuchen nicht, sie zu leugnen. Punk und New Wave, ein bisschen Britpop und absolute Stilsicherheit werden auf dem selbstbetitelten Erstling kunstvoll miteinander vermengt. Dem verhalten beginnenden Opener „Jacqueline“ folgen mit „Tell her tonight“ und „Take me out“ schon wenig später perfekte Songs mit reichlich Clash-Einschlag. Der Bass wummert und die Stimme hält – „Auf Acshe“ (eine weitere Liebesbezeugung an die deutsche Sprache) versucht mit der Besetzung von Gitarre, Bass und Schlagzeug einen perfekten Kraftwerk-Song zu intonieren: „She’s not so spezial – so look what you’ve done, Boy!“ Überflüssig zu erwähnen, dass mehr als ein Mitglied der Band längere Abschnitte ihres Lebens in Deutschland verbracht haben. Auf dem eingangs erwähnten „Darts of Pleasure“, dem unangefochtenen Höhepunkt der Platte, heißt es in einer Zeile: „Ich heiße Superfantastisch – ich trinke Schampus und Lachsfisch“ – das wirkt exzentrisch und soll auch so sein. Die ruhigeren Klänge zum Ende der Platte hin können allerdings nicht verhehlen, dass Franz Ferdinand gepflegt rocken und die Begleitumstände ihrer Musik lediglich zur Vervollkommnung ihres Gesamtwerkes nutzen. Alles was hier etwas androgyn oder teutonisch wirkt, zeugt weniger von sensiblen Gemütern als vielmehr von Verwandlungskunst: „This is what I am, I am a man, so come and dance with me Michael!“ Davon wollen wir mehr hören!

The Streets: A Grand Don’t Come for Free
Vice / 679 Records

Die elektronische Musik Großbritanniens hat die Krise ihrer Außenwirkung wohl bereits ein paar Jahre vor Rock und Pop hinter sich gelassen. Basement Jaxx und Prodigy sind seit jeher Garanten für sehr tanzbare und rhytmusgeladene Beats, die Bewegung des Garage und Two Step hat auch der britischen Mittelschicht-Jugend wieder einen Grund gegeben, sich „underground“ zu fühlen und ordentlich einen drauf zu machen. Schon erspähen Trendscouts auf den Straßen der britischen Industriemetropolen den Typus des „Chav“, eines halskettenbehängten und beturnschuhten Teenagers, der sein prolliges Äußeres durch das Tragen von Statussymbolen wie etwa teuren Sneakers und Mützen mit einschlägigem Karo aufzuwerten versucht. Der „Chav“ wirft sich am Freitagabend eine bunte Palette an Drogen ein und setzt dann zum Pub Crawl an, der schließlich zu den Klängen von Big Beat oder Two Step bei einer gepflegten Schlägerei im Club enden wird. Das traditionsreiche Modelabel Burberry hat die Bedrohung erkannt und die Produktion seiner Schirmmützen vorerst eingestellt. Und Mike Skinner, ein junger „Lad“ aus London, hat den Soundtrack zum neuen Bewusstsein der englischen Jugend auf CD und Vinyl gebannt – und ganz nebenbei eine der besten Platten des Jahres vorgelegt. Mike Skinner ist The Streets, die innovativste Ein-Mann-Band aus England in den vergangenen Jahren. Ein Mann, der charmante Geschichten erzählt, die vom Alltag der jungen, mitunter orientierungslosen britischen Kids handeln. Von Fernsehen und Drogen, von zerbrochener Liebe und „Binge Drinking“, dem unter jungen Briten so gerne kultivierten Trinken bis an die Bewusstseinsgrenze. Dies alles packt Skinner in Patchwork-Songs, die viele Stile zitieren und dabei mal balladesk, dann wieder als Clubsong im Drum’N’Bass– oder Hip-Hop-Gewand daherkommen. Unverwechselbar neben dem Stilmix ist das Cockney-Englisch des Skinnerschen Sprechgesangs. Zwar hat er sich für „A Grand Don’t Come for Free“ Unterstützung für den Gesang gehört, doch bleibt das prägende Merkmal seiner zunehmend sparsamer instrumentierten Songs ein stakkatohaftes „Singen“ und Rappen in einem Idiom, das der deutsche Hörer stets als „typisch englisch“ umschreiben wird. Es ist die Sprache der Straße, und es sind ihre Themen. Voller Larmoyanz erzählt Skinner – dabei nur vorgeblich ein pimp – von den Möglichkeiten, Mädels im Pub abzuschleppen, nachdem man sie vorher im Kreis der Freunde nach Aussehen und Klasse benotet hat: „See, I reckon you’re an eight or a nine – maybe even a nine and a half in four beers time.“ („Fit but you know it“). Skinner verlässt sich auf britische Tugenden und die Suggestivkraft des Umgangssprachlichen: „Twat“ ist sein bevorzugtes Schimpfwort für ungeliebte Zeitgenossen, eine eher harmlose Beschimpfung, wie er jüngst in einem Interview zu Protokoll gab. „Cunt“ oder „Wanker“ kommen dem jungen Mann nicht so schnell über die Lippen.

Nach seinem über die Grenzen der Insel hinaus beachteten Album „Original Pirate Material“, einer wilden musikalischen Komposition aus Breakbeat, Hip Hop und Reggae, gepaart mit Texten aus dem Herzen der englischen „Working Class“, perfektioniert er auf „A Grand Don’t Come for Free“ seinen Stil zur großen Pop-Entdeckung. Der Sound ist rauh und die lyrics sind es erst recht, doch Mike hat ein Gespür für die Brechung von harten Beats und zuckersüßen Sample-Melodien. Dabei legt er textlich wie musikalisch einen solchen Einfallsreichtum an den Tag, dass man gespannt sein darf, womit The Streets auf kommenden Alben glänzen werden. Hymnische Songs wie „Could well be in“ und „Dry your eyes“ beherrscht Skinner ebenso meisterhaft wie Uptempo-Songs ? la „Fit but you know it“ oder „Such a twat“ – da tobt der Pub, da liegen sich die „Blokes“ in den Armen. Rasche Tempowechsel in einem zuvor spartanisch wummernden Stück („Empty Cans“)? Kein Problem. Veritable Hits inklusive sind The Streets ihrem musikalischen Mikrokosmos längst entwachsen, wird die Fangemeinde außerhalb der Insel immer größer. „He’s not addicted, he could stop any time“ heißt es in „Not addicted“. Mit „A Grand Don’t Come for Free“ kann man nicht so einfach aufhören. The Streets heißt die Droge!

Cool Britannia!

Original Britpop Material: Die besten Platten des Jahres kommen von der Insel


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