Ohrenschmaus

Der Moskauer Kammerchor „Peresvet” singt russische Tischlieder

Musik aus Russland – zugeschminkte Pop-Hühnchen, die sich zum Dieter-Bohlen-Stechschritt-Sound zungenküssen, stumpfe Rammstein-Verschnitte oder wodkaselige Vollbartträger? Oh nein. Langsam, langsam kann man sich in den letzten Jahren davon überzeugen, dass östlich der Bundesrepublik ein so gut wie unerforschtes Musik-Reich liegt, das vor kreativem Potential fast zu bersten droht. Bands wie Markscheider Kunst oder Leningrad spielen vor immer größeren Häusern und nicht zuletzt dank Wladimir Kaminers „Russendisko“ wird innovative Musik aus der ehemaligen Sowjetunion hierzulande immer populärer. Internationalen Vergleich muss ohnehin kaum jemand scheuen, nur – wo zum Teufel kriegt man das Zeug, einmal abgesehen vom oft zweifelhaften CD-Angebot russischer Lebensmittelgeschäfte, nur her? Geht es nach dem Berliner Label Eastblok Music, hat diese Misere bald ein Ende und ein weiteres Tor zum Osten wird in die Reste des Eisernen Vorhangs gesprengt. Als erstes Album veröffentlichen die Berliner Klassisches aus Russland, wenngleich fern vom üblichen „Klassik-Betrieb“.

Der Peresvet hat eine steile Karriere hingelegt. Kaum gegründet, wurde er zum offiziellen Chor des Moskauer Patriarchats ernannt. Alexij II., dem Patriarchen von Moskau und ganz Russland, hat es gefallen und nun ist erstmals eine Auswahl ihrer Kunst bei den Berliner Osteuropa-Spezialisten erschienen. Wer hier jedoch jene berühmte alkoholgetränkte Kosaken-Atmosphäre erwartet, sei gewarnt. Peresvet gehen nüchtern und mit klassisch geschultem Kunstverstand an die Lieder heran, ohne dass jenes gewisse archaisch-altrussische Klangideal fehlen würde.
Den Aufnahmen geht intensive Archivarbeit voraus – vergleichbar mit dem wissenschaftlichen Anspruch des englischen Hilliard-Ensembles. Peresvet, unter Leitung des Musikwissenschaftlers und Gründers Dmitrij Judenkow, graben sich durch die historischen Schichten der russischen Musik und fördern unentdeckte Edelsteine zutage, die sie auf Themen-Alben und Konzerten zugänglich machen. Für ihr Deutschland-Debüt haben sie sich ein durchaus unerforschtes Gebiet vorgenommen – russische Tischlieder.
Gemeinsam mit Freunden am Tisch zu sitzen – in Russland war das stets viel mehr als reine Nahrungsaufnahme. Über die Jahrhunderte bildete sich ein großes Repertoire an „Tischliedern“ heraus. Fünfzehn dieser wundervollen Hymnen, zwischen elegischer Ballade und feurigem Trinklied, haben Peresvet für ihr Debüt ausgewählt. Diese alten Lieder funktionieren auch ohne Einbindung in die geselligen Tischrituale als wunderschöne Chorsätze in Judenkows mächtigen und doch transparenten Arrangements.
Dazu die Stimmen – wunderbar blutvolle Tenöre, die Mittellagen mit der bronzenen Qualität einer orthodoxen Kirchenglocke, die Bässe tief wie die russischen Wälder, dazu ein untrüglicher Instinkt für die rhythmische Nuance. Man darf sich auf weitere unbekannte Schätze des Ostens freuen.

Peresvet – Oi, Moroz, Moroz. Russische Tischlieder.

VÖ: 31. 1. 2005

EASTBLOK MUSIC

www.peresvet-chorus.ru/en/
www.eastblokmusic.com

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