Glanz der Musik, Elend der Regie: „Fidelio” in Leipzig (Sebastian Schmideler)

Ludwig van Beethoven: Fidelio
Inszenierung: Stein Winge
Bühne: Kari Gravklev
Musikalische Leitung: Herbert Blomstedt
Gewandhausorchester
Leipziger Opernchor

Fotos: Andreas Birkgit

Glanz und Elend eines moralischen Bekenntnisses:
Beethovens „Fidelio“ in Leipzig

Dem scheidenden Gewandhauskapellmeister Herbert Blomstedt ist die Freude über die ungebrochene Schönheit und die feierliche Würde von Beethovens Musik sichtlich anzusehen. Das Publikum spürt, was ihn bewog, ausgerechnet „Fidelio“ in der dritten Fassung für seinen ersten und einzigen Auftritt in der Oper Leipzig ausgewählt zu haben. Mit wachem Gleichmut und nicht nachlassender Disziplin gelingt es ihm, dem Ensemble, dem Opernchor und seinem formidablen Orchester, den hohen moralischen Anspruch dieser oratorienhaften Oper glaubhaft zu versinnlichen. Für diese unmissverständliche Aufrichtigkeit der erfolgreich vermittelten musikalischen Botschaft trägt ihn das Publikum auf Händen. Denn großer Jubel und Begeisterung in allen Reihen stehen am Ende von Blomstedts spätem Leipziger Operndebüt. Nicht zuletzt dieser unverbrüchlichen Integrität dieses Dirigenten ist es zu verdanken gewesen, dass die Glaubwürdigkeit des Abends trotz heftiger Attacken durch das Inszenierungsteam nicht übermäßig litt.

Denn der norwegische Regisseur Stein Winge hatte sich in den Kopf gesetzt, die für sich stehende Moral der Musik durch eine zweite eigenwillige Ebene zu durchbrechen, unglücklicherweise mit der Absicht, sie als eigenes moralisches Bekenntnis zu autorisieren. Mit unterschiedlichem Erfolg. So müssen sich die Häftlinge statt mit der Gnade des Sonnenlichtes mit der kalten Atmosphäre von Kunstlicht und Kunstblumen begnügen und bleiben so Gefangene hinter Plexiglas – ein bedenkenswerter Einfall. Die Verwaltung im amerikanischen Gefängnis Foucaultscher Denkart (Bühne: Kari Gravklev) frönt derweil dem Genuss verschiedener narkotisierender Getränke, um die eigene Leere und das Bewusstwerden ihres Tuns zu übertuschen: Kaffee, Bier und Sekt fließen nicht nur in Strömen in die Kehlen der Wärter, sondern werden ausgiebig auf der Bühne vergossen, um mit einem Scheuerlappen aufgewischt und ebenso genüsslich wieder ausgewrungen zu werden. Goldflitter wird selbstvergessen umhergestreut, hier ein Gedeck aufgelegt, dort ein Tisch abgeräumt, da eine Flasche entkorkt – die Verlegenheit ist groß.
Das wird nicht besser, wenn sich der Gouverneur Don Pizarro mit seinen Soldaten in Gestalt eines Mafiaboss-Stereotypen und seiner Türsteherschickeria nähert (Kostüme: Kari Gravlek). Das wird auch nicht schlüssiger, wenn der Gefangenenchor mal unsortiert im Weg herumsteht, mal in geschlossener Formation mit dem Rücken zum Publikum auf den nächsten Einsatz wartet oder sich Florestan im besprayten Styroporkerker suhlen muss. Und was es schließlich bedeuten soll, wenn der Opernchor am Ende zum Befreier seiner selbst avanciert, indem die Chormitglieder Schilder und T-Shirts mit ihren aufgedruckten eigenen, realen Namen und Gesichtern von sich werfen, bleibt ein seltsamer Rebus. Den enträtsle, wer will und kann.

Das Publikum hatte dazu ganz offensichtlich keine Ambition, denn es sparte nicht mit heftigen Buhrufen und äußerte deutlich sein Missfallen. Diese Reaktion lag auch daran, dass die Schlusspointe weit über das Ziel hinausschoss. An der sensibelsten Stelle des Ganzen – dem Befreiungschor am Ende, einem ernsthaften, wunderbaren Freiheitsgebet, auf das die musikalische Komposition ungeheuer zielsicher zusteuert -, ausgerechnet da schüttet Winge Moralin aufs Haupt der Zuschauer. Der Opernchor hüpft – kaum der Gefangenschaft entkommen – plötzlich in wilder Partylaune umher, die Damen schminken sich während des Gebets, die Zivilisationskrankheit kehrt zurück. Und das soll wohl heißen: alle Mann sind Hals über Kopf in der verflachten freiheitlichen Demokratie der Gegenwart angekommen. Doch Beethovens Musik kündet von einer anderen Freiheit. Der daraus entstehende, von der Regie gewollte Widerspruch ist natürlich begreiflich, weil er wie Schuppen von den Augen fällt, wirkt aber gerade darum aufgesetzt, zu deutlich, zu rigoros, zu sehr Holzhammer, um überzeugen zu können. Das Publikum hatte keine Lust auf Illusions perdu dieser Art.
Dafür ging im Gewandhausorchester die Sonne auf, die in allen Farben eines abgerundeten Orchesterklangs funkelte und strahlte. Und nicht nur da. Nach einer gewissen Anlaufzeit kam Gabriele Fontana in volle Fahrt und leistete sich als Leonore einen akustischen Höhenflug, für den ihr die entsprechende Anerkennung nicht versagt wurde. Energisch, mit groß aufgezogenen Bögen und doch voller schlüssiger Schattierungen ist ihre Interpretation abgewogen und dem Charakter der Leonore souverän gewachsen. Eike Wilm-Schulte als machtlüsterner Wüterich Don Pizarro sang mit der wünschenswerten Leidenschaftlichkeit seine kraftvollen Rachearien, die hieb- und stichfest waren. Seine Stimme behauptete sich tapfer gegen das große Orchester. Einen würdigen Kerkermeister Rocco mit einem markerschütternden Tiefenregister gab James Moellenhoff. Eine gute Leistung von Sune Hjerild als Jaquino. Ainhoa Garmendia als Marzelline sang auch diese Rolle wie sie alle Rollen singt. Dem Ensemble gelingt ein konzentrierter Terzett- und Quartettgesang. Jürgen Kurth als Don Fernando gab sein bestes und überzeugte gut. Die Stimme von Thomas Piffka als Florestan wirkt bisweilen zu gepresst und dynamisch etwas zu reichlich akzentuiert. Insgesamt achtete Blomstedt darauf, keinen wüsten Con-fuoco-Beethoven zu spielen, sondern genug Zeit zu lassen, damit alle Details und Facetten der mitreißenden Partitur hervortreten konnten.

Das fiel besonders in der Leistung des Chores auf. Denn der Männerchor der Oper brachte dank der ganz offensichtlich vorzüglichen Einstudierung von Gunter Wagner mit dem Gefangenenchor einen deutlich herausragenden Höhepunkt des Abends zustande. Durch brillante Intonation und eine wohlausgewogene Dynamik wurden die großen Anforderungen an diesen Gefangenenchor mit souveräner Meisterschaft bewältigt. Es entstand eine außerordentlich glaubwürdige Interpretation, die unter die Haut ging. Auch das Befreiungsgebet am Schluss wirkte erstaunlich stringent, zumal bei dieser durch den Regisseur abverlangten Hopserei. Respekt!
Allerdings fiel diesmal wieder auf, dass die Phonetik des Deutschen immer noch ein Problem darstellt. Das führt zum Teil zu ungewollt lustigen Allophonien: z.B. „Du bist ein Räuchermann“, statt „reicher Mann“ oder „O Hoffnung lass den letzten Stern der müden nicht erleichen“, statt „erbleichen“. Übertitel scheinen also auch für deutsche Opern angebracht.
Summa summarum: Vielleicht ist es doch besser, dieses Werk mit Blomstedts Augen zu sehen. Als Beethoven um den „Fidelio“ rang, blutete der europäische Kontinent aus allen Wunden, die ihm Napoleon und die Revolutionskriege geschlagen hatten. Eine Welt war im Umbruch, die Verlässliches überwand und Ungewisses ahnen ließ. Doch der Mantel der Geschichte wehte vorüber – alles schien auf einmal möglich werden zu können. „Fidelio“ ist so gesehen wie ein besonderer Blick zwischen für einen kurzen Moment aufgerissene Wolkenmassen: ein Hoheslied der Liebe, das zugleich dem Ethos der Freiheit huldigt.

(Sebastian Schmideler)

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