Aus der Schatztruhe vergessener Opern: Boieldieus „Johann von Paris” in der Reihe „Oper am Klavier” (Sebastian Schmideler)

Johann von Paris
Oper von Francois Adrien Boieldieu
Szenische Einrichtung: Gundula Nowack
Am Klavier: Hans-Georg Kluge
Oper Leipzig, 16. Februar 2005

Schumanns „Figaro“
„Johann von Paris“ in der Reihe „Oper am Klavier“

Die Oper des beginnenden 21. Jahrhunderts ist als Institution – da hilft kein Sträuben – mehr denn je ein akustisches Museum. Doch dass sich aus dieser Not auch eine Tugend machen lässt, beweist die Leipziger Reihe „Oper am Klavier“ immer wieder auf bestechende und überraschende Weise. Wo sich Ensemble und Regie mit Witz und Humor bemühen, dem Bedürfnis des Publikums nach entspannender Unterhaltung entgegenzukommen, muss es nicht zwangsläufig flach und anspruchslos wie in der Unterhaltungsindustrie zugehen, sondern kann ein mit wenig Aufwand individuell gefertigtes, reizvolles Fluidum entstehen: heiter-ironisch, atmosphärisch-gelöst und vor allem gediegen-genießerisch.

Nicht nur schiefrunde Perlen wie Vicente Martín y Solers „Una cosa rara“ fördert das mittlerweile bestens aufeinander eingespielte Team um Gundula Nowack dabei aus dem Fundus vergessener Opern-Antiquitäten ans Tageslicht, auch das eine oder andere ziselierte Juwel kommt auf dieser musikalischen Schatzsuche zum Vorschein. Ein solcher kostbarer Edelstein ist zweifellos François Adrien Boildieus komische Oper „Johann von Paris“ – ein heute völlig vergessenes Kleinod aus dem Jahr 1812, das am 16. und 17. Februar 2005 im gleißenden Scheinwerferlicht des Kellertheaters für einen kurzen Moment abgestaubt und aufgeputzt funkelte. Es wirkte so neu, als sei es erst vorgestern gewesen, dass es aus dem Repertoire verschwand. Der kleine „V-Effekt“, dessen sich Gundula Nowack bedient, um dem einstigen Renner neuen Schwung und einigermaßen frische Vitalität zu verleihen, kommt ganz „unbrechtisch“ daher, denn es ist die sanfte Brechung durch charmanten Humor, von der die nötige Distanz ausgeht. Die geschickte Auswahl der von ihr szenisch eingerichteten Kuriosität kommt ihr dabei allerdings sehr entgegen.

Denn die Handlung von Claude Godard d’Aucour ist so gestaltet, dass sie sogar diejenigen, bei denen nach einem anstrengenden Arbeitstag mit vorgerückter Abendstunde intellektuell allmählich das Licht ausgeht, gerade noch begreifen können. Das Ganze ist eine jener typischen Verwechslungs- und Rollentauschspielerei wie sie das 18. Jahrhundert so sehr geliebt hat. Der Dauphin Frankreichs, Johann von Paris, kehrt mit handfesten Heiratsplänen im Gepäck, in der Verkleidung als Bürger absichtsvoll in eben jenen Gasthof ein, den ein im Hofzeremoniell sehr bewanderter Oberseneschall der Königin von Navarra schon für seine hochgestellte Gebieterin reservieren ließ. Der Edelmann spielt nun vor diesem aufgesetzten Kerl den koketten Bürger. Mit bourgoisem Selbstbewusstsein denkt er überhaupt nicht daran, das Feld für den Hochadel zu räumen, was den feilen Höfling zur Weißglut bringt. Aber die kluge und anmutige Prinzessin durchschaut, kaum eingetroffen, dieses Spiel von Anfang an – und was braucht’s der Worte mehr, wo sich Herz zum Herzen findet… Daneben bahnt sich eine ernsthafte Liebe zwischen der Wirtstochter Lorezza und dem Diener Johanns, genannt Olivier, an – auch diese Liebe schmilzt natürlich, wie kann es anders sein, wie Schokolade auf der Zunge.

Musikalisch jedoch ist die Vorlage schon deshalb völlig zu recht geadelt worden, weil Robert Schumann sie mit Mozarts „Figaro“ verglich. Sanft einschmeichelnde Melodien, zart dahin wogende Duette gehen mit einer zielsicheren motivischen Arbeit einher, die sich insbesondere in der Ouvertüre manifestiert. Daneben macht eine ziemlich beachtliche Charakterisierungskunst für eine gewisse Art Trobadorgesang des 19. Jahrhunderts und für die dazu kontrastiv gegenübergestellte handfeste und volkstümliche (Tanz)musik der Landleute das Besondere von Boieldieus geschulter Komponistenhandschrift aus. Mit der Gestalt des Oberseneschalls ist das komische Element andererseits wirklich hinreichend bedient.

Es war Jürgen Kurth, der hier als gezierter und stutzerhafter Oberhofmeister in unverwechselbarer Aufmachung die lebendige Puderquaste miemte. Der Bruder Ludwigs XIV. hätte diese Rolle nicht überzeugender spielen können. Sicher intoniert und kraftvoll ausgesungen Thomas Oertel-Gormanns als Gastwirt Pedrigo, wie immer bezaubernd in der Rolle der Unschuld vom Lande Anne-Marie Seager als Gastwirtstochter Lorezza. Ainhoa Garmendia schlüpfte diesmal in die Hosenrolle des Olivier und machte hier eine durch und durch gute Figur: strahlende, wie von selbst fließende Melodien, gute Akzentuierung. Eine Meisterleistung von Martin Petzold als Johann von Paris. Petzold bringt es in seiner nicht nur komischen Rolle fertig, die absurdesten Kunststücke spielerisch zu bewältigen. Denn wer hat schon mal einen Sänger gesehen, der gleichzeitig Brote schmiert, Weingläser leert, Käse und Wurst kaut und dabei auch noch völlig unbeeindruckt singt wie eine Lerche und dazu noch mit seinen Klavierauszug in der Hand kokettiert? Das war allerhand! Aber das Beste kommt erst noch: Denn der Abend wartete mit einer echten Neuentdeckung auf. Ji-Jeong Yeongs erster Auftritt in der Oper geriet mit der Rolle der Prinzessin von Navarra ein geradzu zum symbolischen Akt. Eine grazile, junge, außerordentlich federnde und souverän beherrschte Stimme perlte hier in Kaskaden, die Zuschauer hörten und sahen, dass hier eine vielversprechende Sopranistin mit Anmut, Grazie und großer Ausstrahlungskraft singt, auf die man acht geben sollte.

Hans-Georg Kluge als sein eigener Dirigent im Ein-Mann-Orchester über mehr als sieben Oktaven bekam am Klavier diesmal Wein und kein Bier – aber auch das erschütterte ihn und sein dauerhaft diszipliniertes Spiel natürlich nicht im geringsten. Im Gegenteil: Wein passte gut zu diesem besonderen Opernquerschnitt. Das Publikum belohnte die Qualität von Vorlage und Inszenierung mit langanhaltendem Applaus, der alle Beteiligten und vor allem die Leitung des Hauses dazu ermuntern müsste, die Reihe öfter stattfinden zu lassen. Denn es versteht sich von selbst, dass die Schatztruhe vergessener Opern noch übervoll ist von solchen Kleinodien.

(P.S.: Wenn sich die Bühnenrequisite das nächste Mal wie auf der Tafel „Es lebe die Königin von Navarra!“ der Frakturschrift bedient, sollte sie den Gebrauch des „s“, das fast wie unser heutiges „f“ aussieht und dem sogenannten Schluss-S – unserem heutigen „s“ – etwas genauer unterscheiden. Denn in dem Wort „Es“ ist der in der Requisite verwendete Frakturbuchstabe „?“ falsch, es kommt hier das Schluss-S („s“) zur Anwendung!)

(Sebastian Schmideler)

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