Eun Yee You begeistert als Anima in der Wiederaufnahme von Vincenzo Bellinis „La Sonnambula” (Sebastian Schmideler)

La Sonnambula (Die Nachtwandlerin)
Melodramma in zwei Akten von Vincenzo Bellini
Text von Felice Romani
Leitung: Frank Beermann
Inszenierung: John Dew
Bühne: Thomas Grber
Kostüme: J. M. Vazquez
Gewandhausorchester, Chor der Oper Leipzig

Fotos: Andreas Birkigt


Sternstunde des Belcanto:
Eun Yee You als Amina in La Sonnambula

Bellini scheint auf den ersten Blick für die Oper das zu sein, was der Czerny für das Klavier ist. Die Meisterstufe vollendeter Fingerfertigkeit bei Czerny entspricht, so könnte man spitzfindig sagen, der geübten und geschmeidigen Koloratur bei Bellini. Doch obwohl die Musik des jungen Italieners sich fast völlig in herkömmlich gesetzte Kadenzen und Tonleitern auflösen lässt, die vordergründig auf technische Virtuosität zielen und nicht selten nach Lehrbuch klingen, geht Bellini einen Schritt über die bloße Meisterübung hinaus. Und dieser Schritt ist der entscheidende Schritt von der nur auf Wirkung bedachten, gleißenden Virtuosität hin zum Kunstwerk. Die Oper La Sonnambula ist ein schönes Beispiel dafür, wie ein auf Kurzlebigkeit, Verschleiß und auf ständige Erneuerung setzendes Genre wie der Belcanto trotzdem zur Tiefe der Empfindung vordringen kann. Denn hat Donizetti auch über siebzig Opern in diesem Stil geschrieben, die heute weitestgehend vergessen sind, Bellinis frühromantisches psychologisierendes Seelendrama schimmert noch immer wie ein Opal aus der Masse der Halbedelsteine hervor.

Dieser spannenden und anregenden Wiederentdeckungsfreude an der gestalteten Tiefe unter der Oberfläche dieser gefälligen Kunstfertigkeit nachzuspüren, ist sicher einer der Gründe, wieso sich viele Opernhäuser in letzter Zeit erneut diesem Genre zugewendet haben. Auch in Leipzig hat der Belcanto mittlerweile Konjunktur. Mit der Wiederaufnahme der ersten Inszenierung von John Dew am Sonntag, dem 6. März 2005, ist nahtlos wieder an einen Zyklus angeknüpft worden, der in dieser Spielzeit mit einer weiteren, der dritten Premiere im Mai fortgesetzt wird, die dem Publikum eine Begegnung mit Giacomo Meyerbeers Margherita d’Anjou verspricht.

Die Aufführung der Sonnambula glänzt vor allem durch eine herausragende Leistung: Eun Yee You als Amina. Die schwerelos filigrane Natürlichkeit, mit der sie Kaskaden beschwingt und konzentriert moduliert, ist ebenso ergreifend wie sie melodramatische Passagen innerlich durchdrungen herausarbeitet – es grenzt an ein Wunder. Denn Eun Yee Yous Sangeskunst wirkt so sehr aus dem Moment heraus geboren und naturgegeben, dass man es kaum für menschenmöglich hält. Ein klares und doch ganz leicht hingehauchtes Piano gelingt ihr ebenso unangestrengt, wie sie dynamische Feinheiten akkurat, sauber und geschmeidig ausformt oder weite Melodienbögen geschickt zu bunten, schillernden akustischen Farbenspielen windet, so funkelnd wie Sonnenlicht, wenn es auf die Wellen eines leicht bewegten Sees fällt. Kurz, die Schlichtheit und das elegant Schickliche, mit der sie die Rolle der sanften, im Traum an ihrer Liebe zu Elvino festhaltenden Schlafwandlerin gestaltet, setzt in Erstaunen, doch ein Rest von Unerklärbarkeit bleibt bei dieser faszinierenden Interpretation. Leicht zu erklären ist hingegen, wieso der junge italienische Tenor Andrea Coronella als Elvino in allem ihr Gegenteil ist, so als stünden sich männliches und weibliches Prinzip kontrastiv gegenüber.

Nicht, dass der feurige Coronella nicht über eine gute Stimme verfügte, aber er haushaltet unvorteilhaft mit seinen enormen Kräften. Die Leidenschaft brennt mit ihm durch. Das mag italienisch gefühlt sein, aber sein Vortrag leidet musikalisch, technisch und dynamisch an diesem etwas ungezügelt überschäumenden Temperament.

Als Graf Rudolfo legte Felipe Bou mit einen sonoren kräftigen Bariton eine sehr respektable, reife Leistung ab, durchgestaltet und energisch. Das Leipziger Debüt von Judith Hasz als Lisa macht neugierig auf weiteres. Schön, dass sie die Lisa weder musikalisch noch darstellerisch als schnippisch oder als komische Figur anlegt, sondern die Rolle dezenter, geschmackvoller ausformt. Thomas Oertel-Gormanns als Alessio zeigt auch auf der großen Bühne gute Intonation und dynamischen Ausdruck. Kathrin Göring als Mutter Teresa ohnehin.

Im Chor wird schwungvoll und im Ganzen ausgewogen gesungen. Der Gespensterchor oder das Vivat am Beginn bleiben angenehm in Erinnerung haften – ein gutes Zeichen, auch wenn es vielleicht hier und da noch Verbesserungswürdiges gegeben haben mag.

Das augenzwinkernde, einfallsreiche, kubistisch-kuhübersäte Bühnenbild von Thomas Gruber, die dezent farbigen Kostüme von José Manuel Vazquez, das ironische Spiel mit den Farben schwarz und weiß und die schwungvolle dramatische Regie, die auch aus der großen Chormenge eine bewegliche, schauspielerisch agierende Hauptpartie macht, wie in Bellinis Musik angelegt, haben nichts an ihrer unterhaltenden Frische eingebüßt.

Das Gewandhausorchester unter der Leitung von Frank Beermann lahmt und schleppt da und dort. Im aufgeregt atemlosen Gespensterchor erscheint das Orchester im harten Staccato-Klang. Die Streicher federn in den Begleitpassagen nicht immer nach, die Betonung der Zähleinheiten eines Taktes wirkt dadurch insgesamt nicht völlig überzeugend ausgewichtet. Die für ein Belcanto Orchester typische, fließende, melodiöse Leichtigkeit kann so nicht durchgängig entstehen. – Doch Eun Yee You relativiert alles.

(Sebastian Schmideler)

Weitere Aufführungen: 10., 12. März, 8. April 2005

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