Japanische Nouvelle Vague: Der Berlinale-Skandal von 1965 „Geschichten hinter Wänden” jetzt wieder im Kino (Maike Schmidt)

Geschichten hinter Wänden
(Kabe no nakano Himegoto)
Japan 1965, 70 min., s/w
Regie: Kôji Wakamatsu
Buch: Kôji Wakamatsu, Yosiaki Otani
Kamera: Hideo Ito
Kinostart: 17. März 2005 (Wiederaufführung)

Bilder: CinemathekJapanische Nouvelle Vague

Es ist das Tokio der 60er Jahre, das als Schauplatz eines Filmes herhält, der in seinem Inhalt einem Irgendwo, Irgendwann entspricht. Dass es Tokio sein soll und dass es in den 60er Jahren spielt, ist gut und schön, aber völlig irrelevant – dieser Film erzählt Geschichten hinter Wänden, die es überall und zu jeder Zeit auf der Welt gegeben hat und geben wird. Gezeigt wird menschliche Monotonie, die nicht groß gesucht werden muss, eher viel zu schnell gefunden werden kann. Man muss nur an die Ränder einer Stadt fahren; da stehen sie, die Häuserblocks, die Wohnsilos, eins neben dem anderen, eins wie das andere. Dass in ihnen Menschen leben, dem will Kôji Wakamatsu nachspüren und wirft einen Blick hinter die Wände, um Geschichten zu sehen.

Da wäre Makoto, ein 16jähriger Schüler, der auf Wunsch seiner Eltern, für die Aufnahmeprüfung an der Universität lernt, ohne es wirklich zu wollen oder – viel schlimmer: ohne es eigentlich zu können – obwohl er nichts lieber will als weg von hier, weg von dem trostlosen Lebend der Eltern, weg von der Schwester, die ihnen nacheifert, raus aus der kleinen Wohnung, mit den dünnen Wänden, durch die man alles hört, ohne zu sehen, ein blindes Leben mit sprechenden Wänden. Aber sehen will Makoto: So guckt er sich Pornohefte an und blickt aus dem Fenster, beobachtet die Nachbarn, ihre für ihn hörbare Unsichtbarkeit wird mit einem Fernrohr durchbrochen, das auch den Zuschauer einlädt, mitzuschauen.

Und so sehen wir, gleich gegenüber, drittes Fenster von links, eine Frau, die Tag für Tag ihren Mann betrügt mit dem Menschen, den sie vor langer Zeit einmal sehr geliebt hat, der aber jetzt, seiner Ideale beraubt, auch das Ideal der Liebe nicht mehr zu leben kann. Sex ist ihr gemeinsamer Weg zueinander zu finden, was ihr nicht reicht und ihm völlig langt. Fragen nach dem Menschlichen lassen ihn letztlich aus ihrem Leben verschwinden, was bleibt ist eine tote Wohnung und ein stummer Ehemann.

Den Blick ein bisschen höher gerichtet, 3. Etage, da lebt eine Frau ganz allein, ohne Mann, aber mit schöner Seidenunterwäsche, die sie immer wieder „aus Versehen“ von ihrem Balkon auf die der Nachbarn fallen lässt, um sie bitten zu können, ihr diese zu holen – ein immer wieder scheiternder Versuch, Kontakt zu finden, um mehr als 10 Worte am Tag sagen zu dürfen. Irgendwann sagt sie dann gar nichts mehr.

Dies alles sieht Makoto, gefangen in seinem winzigen Zimmer, von den Eltern an den Tisch gefesselt. Mit einem verstörenden Befreiungsversuch entledigt er sich schließlich dieser Ketten, indem er die Wände sprechen lässt.

Mit nüchternem Blick verfolgt Kôji Wakamatsu seine Protagonisten, lässt in ruhigen Bildern und ohne große Effekte eine Tragödie entstehen, welche konsequent Anfang mit Ende verbindet. Wie nebensächlich muss der Zuschauer den Eklat auf sich wirken lassen, so nebensächlich wie der Film selbst mit seinen Figuren umgeht. Dabei verliert er sie nicht aus den Augen, will sie nicht vorsätzlich an den Rand schieben – dies ist nur das, was als Ergebnis wirtschaftlicher und politischer Entwicklung für den Menschen übrig bleiben konnte und so verliert am Rand der Stadt ihr Schicksal an Bedeutung, so dass selbst ein Mord nur noch für eine kleine Meldung in der Zeitung reicht.

1965 war Geschichten hinter Wänden der Eröffnungsfilm der Filmfestspiele Berlin – ein Skandal, angesichts nackter Körper, Vergewaltigung und Voyeurismus, aber sicherlich auch eine Überforderung angesichts der unverblümten Darstellung eines gesellschaftlichen Systems, das nicht nur in Japan so vorgefunden werden konnte (und immer noch kann). Wer will schon das kleine Leben so klein dargestellt vorfinden? Dabei ist das letztlich die Essenz der Kritik, ein lauter Schrei gegen solch unmenschlichen Umgang; ein Schrei der im Film selbst ungehört verhallt – zu sehr ist der Mensch hier an eine Geräuschkulisse hinter den Wänden gewöhnt – ein Schrei, der aber unsere Ohren vielleicht doch noch erreichen könnte.(Maike Schmidt)

Der Film läuft ab dem 24. März in der Schaubühne Lindenfels.

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