Leipziger Buchmesse – Buchempfehlung mit Kurzinterview: Uwe Tellkamp „Der Eisvogel” (Madeleine Rau)

Leipziger Buchmesse, 17.-20. März 2005

Buchempfehlung mit Kurzinterview
Uwe Tellkamp
Der Eisvogel
Rowohlt Berlin, 2005
Gebunden, 320 Seiten, EUR 19,90


Uwe Tellkamps neuer Roman

Ob man ein Buch weiterliest, entscheidet sich auf den ersten Seiten. Bei Uwe Tellkamps aktuellem Roman Der Eisvogel werden alle Schleusen der Neugier sofort geöffnet. Brillant entsteht das Standbild eines Todesschusses, den der Romanheld Wiggo Ritter abfeuert. Zeitlupenartig fliegt die tödliche Kugel auf das Opfer zu, das letztlich keins ist, wie sich später herausstellt. Kein einführendes Geplänkel, zähflüssiges Entwickeln der Geschichte, nur Peng, und man ist mittendrin im Geschehen.

Tellkamps Roman passt in viele Kategorien – Vater-Sohn-Roman, Gesellschaftsroman, Liebesgeschichte – und doch unter keine Schablone. Er ist ein Patchwork-Roman, der viele Erzählstränge vereint, die irgendwann kulminieren und die anfängliche Irritation auflösen. Keine Seite, keine Figur und Begebenheit zu viel. Der Eisvogel ist einer der besonderen Bücher, die das Prädikat rund verdient haben.

Im Zentrum steht der Philosoph Wiggo. Nie entsprach er den überväterlichen Karrierephantasien: meine Frau, mein Auto, mein Haus. Wiggo verliert seine Arbeit, gerät ins Trudeln und naiv in die Hände des größenwahnsinnigen Mauritz. Vom Gedanken besessen, alles zu zerstören, um etwas Neues, Besseres entstehen zu lassen, schart Mauritz einen elitären Kreis von Jüngern um sich und baut eine Terrororganisation auf, Verführer und Despot in einer Person. Ein Filmregisseur hätte in den Drehbuchanweisungen wohl einen schwarzen Schnauzer für die Rolle des Mauritz verordnet. Eine Art kleine Armee wird in einem Trainingscamp gezüchtet. Guerillataktik, Sturmlaufbahnen, Nahkampfübungen.

Der Rücken des Buchs klappt zu und hinterlässt Falten auf der Leserstirn. Ob es wirklich so schlimm stehe um unsere Gesellschaft, frage ich Tellkamp am Donnerstag auf der Leipziger Buchmesse. „Ich denke schon“, lautet seine kurze und ernste Antwort. Sein Gesicht wirkt betroffen. Wie ein Roman in der Publikationsflut dieser Tage noch wahrgenommen werde und etwas bewegen könne, will ich weiter wissen. „Als Literat kann ich beim Leser direkt nichts erreichen. Es braucht das Fernsehen, um die Massen zu bewegen“, räumt Tellkamp ein. „Aber ich kann eine Debatte in Zeitungen anstoßen, auf die dann reagiert wird.“

Der Eisvogel spielt die Alternative einer Unterwanderung der Gesellschaft von rechts durch. Ein Gedankenexperiment, das zwar literarisch fiktional aber real existent ist. „Keiner weiß, wo es hingeht“, hält Tellkamp fest. Und genau dieses Resümee lässt das Hamsterrad für einen Moment stillstehen und eine dunkle Wolke aufziehen, auf die der Zeigefinger gerichtet werden muss.

(Madeleine Rau)


Bild oben: Früher Arzt, heute Autor. Damals füllte Uwe Tellkamp Protokolle in der Unfallchirurgie aus, jetzt signiert er seine eigenen Romane. © M. Rau

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