Zwischen Wortspiel und Ödipus

Leipziger Buchmesse 2005 – Neuheiten auf dem Kinderbuchmarkt

Draue Dänse ducken deradeaus. Die Zwillinge Lotte und Lena haben ihre eigene Sprache entwickelt, und in dieser gibt es kein G. Sehr zum Leidwesen ihres großen Bruders Georg, beziehungsweise Deord. Der erzählt den beiden Mädchen eines Tages vom Buchstabenland, in dem sie nicht weit kommen würden. Das wollen die Zwillinge nicht auf sich sitzen lassen und begeben sich in der folgenden Nacht im Traum auf die Reise. Bis F läuft alles nach Plan, A-meisen, B-ären, C-hamäleons, d-uschende D-rachen werden passiert, die Zwillinge reiten auf einem E-lefanten bis zum F-luss, doch dahinter beginnt eine Wüste. Und weil die beiden gerne wissen wollen, wie es weiter geht, müssen sie wohl oder übel den Buchstaben G aussprechen…

Die Geschichte „Lotte und Lena im Buchstabenland“ von Anne Maar überzeugt durch ihren Sprachwitz, ebenso überraschend und gelungen sind die Illustrationen von Stefanie Harjes, die mit verrückten Perspektiven und Collagetechnik arbeiten. Ein Buch, das Kinder dazu anregt, mit der Sprache zu experimentieren.

Einen rasanten Ritt auf dem Buchstaben R bietet die Geschichte Rotznase Ramsay und die röhrenden Radieschen von Margaret Atwood. Die wohl berühmteste Autorin Kanadas hat mit diesem Kinderbuch einen liebenswerten, frechen Außenseiter kreiert, Ramsay, der in einer Rostlaube wohnt. Der rote Faden, das R, bereichert den Text mit röhrenden Zungenbrechern und bereitet auch dem Vorlesenden einen großen Spaß. Doch es bleibt nicht bei rostig-rollenden Worteskapaden. Margaret Atwood beweist auch in dieser kleinen Geschichte, dass sie eine tolle Erzählerin ist. Aber was es mit den röhrenden Radieschen auf sich hat, wird an dieser Stelle noch nicht verraten. Rrrrrr…

Neben den wortverspielten Texten fallen immer wieder Kinderbücher auf, die sich mit einer spielerischen Leichtigkeit großen Themen nähern. Bei den beiden folgenden Geschichten handelt es sich, wohl kein Zufall, um Hasengeschichten, sind die Themen Angst, Verlassenheit und Hilflosigkeit doch zentral für Kinder. Mama, ich mag dich… von Komako Sakai ist ein zauberhaftes deutsches Debüt einer japanischen Illustratorin. Ein kleiner Hasensohn fühlt sich von seiner Mutter vernachlässigt. Kein Wunder, sie schläft immer so lange, guckt ihre blöden Serien und außerdem sagt sie, sie könne ihn nicht heiraten. Nicht mal, wenn er richtig groß ist. Darum beschließt der Hasenjunge, seine Mutter zu verlassen. Allzu lange währt die Reise aber nicht, die der kleine Ödipus unternimmt…

Die Illustrationen der Geschichte sind in zarten Farben gehalten, mit brüchigem Strich gezeichnet. Die Kolorierung lässt immer wieder den Untergrund durchschimmern. Mit einer liebenswerten Fragilität erobern die Bilder den Blick, fern ab von den grassierenden Bonbon-Bildern im Stil von Lauras Stern. Das Buch des Bösen der Nobelpreisträgerin Toni Morrison greift ein wichtiges Thema für große und kleine Leute auf – ob böse oder nicht. Neben den bösen Großen bekommen auch die Kleinen ihr Fett ab, das Buch bleibt nicht in der Idealwelt der unschuldigen Kinder stecken. Auf humorvolle Weise zeigen Toni Morrison und ihr Sohn Slade, der an diesem Buch mitgewirkt hat, wie die Kinder Bösartigkeit in ihrer Umwelt erfahren. Sie kann laut daher kommen oder geflüstert sein, sie kann sich in grimmigen Gesichtern zeigen, aber auch in scheinheilig lächelnden. Für die Umsetzung dieser offenen und versteckten Boshaftigkeiten hat der belgische Illustrator Pascal Lemaître treffende Bilder gefunden. Ein Buch, das Kindern aus der Seele sprechen wird.

Leipziger Buchmesse 2005 – Kinderbuchneuheiten
Anne Maar, Stefanie Harjes: Lotte und Lena im Buchstabenland
Bajazzo Verlag, ab 6 Jahren
32 S., 12,90 €

Margaret Atwood, Dušan Petricic: Rotznase Ramsay
Bloomsbury Verlag, ab 4 Jahren
32 S., 12,90 €

Komako Sakai: Mama, ich mag dich…
Moritz Verlag, ab 3 Jahren
40 S., 12,80 €

Toni und Slade Morrison, Pascal Lemaître: Das Buch des Bösen
ab 4 Jahren
48 S., 14,90 €

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