Die Entdeckung der Einsamkeit

Der Bildband Dorfbewohner zeigt Menschen, Hochzeitsdecken und Wälder Südostlitauens

Möchte man in einer Stadt leben, die einzig für die vielen Pilzarten, die dort gedeihen, bekannt ist? Wer in Leipzig wohnt, wird diese Frage vermutlich mit „Nein“ beantworten – nichtsdestotrotz gewährt die Leipziger Edition Erata nun einen Einblick in das Leben und die Kultur eines solchen Ortes, der von denen, die nie reisen, wahlweise mit „jwd“ oder „am Arsch der Welt“ bezeichnet werden würde. Ramune Pigagaite hat „ihre Stadt“, Varena, und deren Bewohner aber so eingefangen, dass man sie lange nicht vergisst – und dafür mussten nicht einmal Pilze bemüht werden.

Varena also, eher ein Dorf als eine Stadt, versteckt im südostlitauischen Wald. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde hier eine eigentümliche Tradition gepflegt: Als Mitgift brachte die Braut eine selbstgewebte Decke mit in die Ehe, an der ihr Zukünftiger einiges ablesen konnte: Kreativität, handarbeitliches Geschick und Reichtum fanden ihren Niederschlag in Material und Muster der Decke, die gleichzeitig Liebesbeweis und Visitenkarte der Frau war. Dementsprechend wohlgehütet wurden diese Geschenke dann auch, und als die Fotografin 1996 loszog, „um eine Fotoarbeit über die Vergänglichkeit des Menschen und seiner Tradition zu machen“ (Pigagaite), konnten die meisten Dorfbewohner noch solche Decken vorweisen. Prompt wurden sie zum Bildhintergrund.

Die Frauen in ihren schönsten, geblümtesten Kleidern, die oft Männer in Anzügen – von Schnappschüssen oder Abbildungen des Dorfalltags kann und soll keine Rede sein. Feierlich blicken Männer, Frauen und Kinder in die Kamera, und Ramune Pigagaite erinnert sich: „Die Vorbereitung geschah fast wortlos. Ich verspürte eine Ernsthaftigkeit, sich der Aufgabe, dem Fotografiertwerden zu widmen. Wortlose Blicke in den mitgebrachten Spiegel, immer wieder strichen Finger nervös über das Haar.“ Die Decken, von den vergangenen Jahrzehnten kaum gezeichnet, davor die meist alten Menschen, deren Hochzeiten kleine Ewigkeiten zurückliegen – mitten zwischen den Bäumen des litauischen Waldes.

Die Dorfbewohner und ihre Hochzeitsdecken ist das eine Thema des Bandes – Ernte ist das andere. Hier stehen Landschafts- und Naturaufnahmen, oft Details, im Mittelpunkt. Weite, karge Wiesen, eine verwelkte Blume, Wurzeln und Stoppeln auf dem Feld, dazwischen eine Bauersfrau, ein sitzender Mann, dessen Kopf und Füße das Foto ausspart, sind einige der Motive. Das letzte Bild des Fotobandes ist eines der schönsten, weil es unpathetisch die verschiedenen Generationen der Dorfbewohner zeigt, die zwar auf einem Bild versammelt sind, sich aber keineswegs gleich verhalten: Vor dem Hintergrund einer alten Mauer und eines Grabsteines sitzen drei ältere Frauen auf dem Boden, hinter ihnen eine jüngere mit einem kleinen Mädchen neben sich. Alle fünf blicken in verschiedene Richtungen.

Ramune Pigagaite: Dorfbewohner
Fotografie
Edition Erata, Leipzig
19,95 €

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