Friedrich Schiller
Don Karlos, Infant von Spanien
Regie: Wolfgang Engel
Bühne: Andreas Jander
Kostüme: Ulrike Schulze
Schauspielhaus Leipzig
Premiere: 2. April 2005
Fotos: Rolf Arnold
Seriös inszeniertes Schauspiel um Macht und Liebe
Es gab vor rund hundert Jahren eine Zeit, da glaubten eine ganze Menge bedeutender Bühnenschauspieler wie Kainz oder Moissi, klassische Theaterstücke seien nur für sie geschrieben. Als ein paar Jahrzehnte später das Regietheater erfunden wurde, wandelte sich dieses Blatt. Seitdem kursierte allmählich und kursiert noch immer in manchen Köpfen das radikaler werdende Gerücht, der Autor als absolut Sinn stiftende Instanz sei tot und klassisches Theater lebe fast ausschließlich nur noch für die völlig frei und beliebig auslegbare Inszenierungs-Lesart als eigene Kreation des Interpretators. Doch auf die Idee, sich ungeachtet notwendiger Modernisierungen zunächst mit aller Konsequenz in den Dienst eines klassischen Textes zu stellen, kamen seit längerem nur hin und wieder Regisseure.
Um so schätzenswerter ist daher Wolfgang Engels kühnes Wagnis, Don Karlos in einer Kompilation aus rhythmischer Prosa der Erstausgabe von 1787 einerseits und der so genannten „Rigaer Bühnenfassung“ andererseits anlässlich des Schiller-Jahres unter diesem Blickwinkel zu sehen. Der Leipziger Schauspiel-Intendant versteht das Drama in seiner gemäßigten Sicht nicht als wilden Tummelplatz seiner eigenen Ideen, sondern er schürft hintergründig und unaufdringlich modernisierend, durch geschickte Reduktionen, durch pointierte Einfälle und miniaturartige Leitmotive den zündenden geistesgeschichtlichen Sprengstoff frei. Denn Engel dringt mit seiner anregenden widerspruchsreicheren Bühnenversion bis in die entscheidenden Grabungsschichten jenseits der von Wieland angeregten Blankversfassungen vor, die durch Schillers der Französischen Revolution geschuldeten Abmilderungen mehr und mehr verschütt gegangen waren. So entsteht ein radikalerer Text, aber er entsteht in einem unprätentiösen Umfeld und kann dadurch um so packender in all seiner Extremheit wirken. Doch gerade weil ein radikaler, widersprüchlicher, aber sinnhafter Text nicht beliebig frei auslegbar ist, sondern nur innerhalb mehr oder weniger weit zu fassender Grenzen sinnvoll gedeutet werden kann – es sei denn, man will ihn frei bearbeiten -, hat Engel diese Grenze mit der wünschenswerten Dezenz und Zurückhaltung ausgelotet, ohne im mindesten zu vereinfachen oder in die unmittelbaren Sinnstrukturen frei verändernd einzugreifen.
Kühn ist das Wagnis dieser Unternehmung aber andererseits gerade deshalb, weil Don Karlos so gesehen mehr denn je ein explosives geistiges Experiment, eine anspruchsvolle elementare Versuchsanordnung, oder anders gesagt: ein zeit- und kraftaufwändiges Lesedrama ist, das nicht nur wegen seiner enormen Länge von hier dreieinhalb Stunden den Zuschauern ein Höchstmaß an Konzentration und interessierter Aufnahmebereitschaft abverlangt. Auch für die Schauspieler sind die großen Aufgaben dieser Arbeit, wenn nicht Tortur, so doch höchste Anstrengung – aber gerade deshalb in dürftiger Zeit plakativer Unterhaltung ein willkommenes Kontrastprogramm.
Im Mittelpunkt dieser Aufführung steht Schillers Text. Und fast nur dieser Text. Und so wie Engel ohne Selbstdarstellung diese Vorlage anpackt, so soll es sein: Denn was er spielen lässt, das ist noch echtes Theater! Keiner der Schauspieler tritt als Einzelkämpfer hervor, alle Figurencharakterisierungen sind frei von Attitüden und Eskapaden. Statt dessen arbeitet das Ensemble im Zusammenspiel anhand des Textes die Konflikte heraus und legt die Zuwürfe der Standpunkte frei. Sie knüpfen und verknüpfen mit Zurückhaltung und oftmals geradezu reduziert in der besten Tradition des Sprechtheaters die Entwicklungen des Dramas, lassen den Text wirken, ohne den mindesten Fehltritt in Richtung Deklamation und Übertreibung zu begehen. Dieses gelungene gemeinsame Ineinanderspiel ist höchst eindrucksvoll, gerade weil es nichts eigenwillig Gesetztes vorgibt, sondern damit dem Zuschauer die notwendige Freiheit zum Nach- und Mitdenken überlässt.
Martin Reik als Don Karlos bringt die nötige integre Natürlichkeit, die jugendliche Verve dieses Charakters mit und verdeutlicht genau das, was er mit dieser Figur darstellen sollte: die Seele von Hamlet, Blut und Adern von Julius von Tarent, den Puls von Schiller. Ihm nimmt man es ab, dass er im Grunde die einzige ehrliche Haut in diesem abgekarteten Spiel der Intrigen ist. Doch auch bei ihm keine inszenierten Auftritte, sondern angemessenes, schwungvolles Spiel. Großartig auch Torben Kessler als zwischen Freiheitsethos, Menschenbeglückung, Freundschaftspflicht und Intrige und Verrat zerrissener Posa, der heimliche Held des Stückes. Wie er sich in dem berühmten Gespräch mit dem König zu einem glaubwürdig vermittelten Machtpoker aufschwingt, die verteidigten Ideale ohne übermäßige Ergriffenheit durch seine Stimme zu versinnlichen versucht, die spannend ausgespielte Sterbeszene – das alles verdient vollste Anerkennung. Jens Winterstein als König Philipp ist zweifellos eine Glanzrolle gelungen, denn er vergibt bei der Darstellung dieser gespaltenen, hin und her gerissenen, von Schiller schauspielerisch dankbar angelegten Figur nichts. Kraftvolle, gute Textverständlichkeit, die spürbare Kälte der Macht, aber gleichzeitig das verletzte Gefühl des Mannes sind in seiner Interpretation hervorragend verkörpert. Anja Schneider als Eboli überzeugte durch privat wirkende, kleine Gesten das Publikum von der merkwürdigen Rolle dieser Person, sie zeigte durch gekonnt gespielte Nervosität und die gestenarme Suggestion äußerster innerer Anspannung und Angst ihrer Sterbeszene das Verzweifelte der dem Machtkalkül geopferten Gräfin. Das neue Ensemble-Mitglied Stephanie Schönfeld versinnlicht die kühle Grandezza der Königin Elisabeth, ihre bei alle dem innerlich gefasste sinnliche Menschlichkeit. Stefan Schießleder spielt Herzog Alba als kalten, engherzigen, durch und durch mafiösen Fiesling, Michael Schrodt als Beichtvater Domingo spricht mit den dünnen Lippen der Macht ganz leise, so dass man, um ihn ganz zu verstehen, ein Gehör braucht so gut wie das von Felix Krull. Friedhelm Eberle spielte den Großinquisitor als Drahtzieher und Überwacher all der vergeblichen Intrigen just in dem Augenblick als in Rom der Papst starb.
Das erzielte Ergebnis ist einesteils dem anstehenden Jubiläum würdig, weil es einer der respektablen Seiten der deutschen Geistesgeschichte die wünschenswerte Genugtuung widerfahren lässt. Es ist andererseits ein intellektuelles Raffinement. Denn es wird ein seriös inszeniertes „Kammerspiel“ der Macht im Konflikt zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, Idee und Realisation, Liebe und Freiheit geboten, ein subtil ausgesponnenes Psychogramm einer sich selbst entfesselnden und wieder gefangen nehmenden, politisch und ökonomisch einflussreichen Familie. Dazu werden Strukturen der großen Familie, der Mafia, pars pro toto ins Bild gesetzt. Um spanisches Kolorit anzudeuten, wurden von Thomas Hertel eigens fünfstimmige Saxophonsätze mit feurigem Rhythmen komponiert, die Aktübergänge und dramatische Entwicklungen im con fuoco untermalen.
Die Kostüme von Ulrike Schulze deuten vollendete Gegenwart an, kalte Nadelstreifenanzüge, Designermodelle entsprechen gängiger Vorstellungen vom Mafia-Milieu. Im Fall der Königin spielen die Kostüme auch mit Motiven der Hofkleidung oder symbolisieren wie der offene Kragen des Infanten eine Lebenshaltung. Andreas Jander hat mit seiner kreisförmigen Drehbühnenkonstruktion geschickt ein rotierendes Stellwerk entworfen, das rasche, perspektivreiche Szenenwechsel, unerwartete Effekte, vor allem aber auf das Grundsätzliche verweisende, kubistisch anmutende Raumkonstruktionen andeutet und Montagen ermöglicht, die wegen ihrer reduzierten Zurückhaltung ganz die Schauspieler und den Text in den Vordergrund treten lassen.
Großer Jubel am Ende für alle Beteiligten, den Schauspielern war die Erleichterung sichtlich anzusehen und der Applaus des ganz offenkundig faszinierten Premierenpublikums wirklich redlich verdient!
(Sebastian Schmideler)
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