Kurz an die Elbe

Impressionen vom 17. Filmfest Dresden

„Une histoire vertébrale“ (Bild: Filmfest Dreden)

Dresdens Künste beschränken sich ja nicht nur auf Caspar David, Semperoper und Radeberger. Seit nunmehr 17 Jahren hat sich das Filmfest Dresden etabliert, das mit ganz eigenen Reizen lockt und eine Reise in die Landeshauptstadt lohnenswert macht. Wer sich einen knapp zweistündigen Block im Nationalen oder Internationalen Wettbewerb ansieht, dem werden in loser Reihenfolge abwechselnd etwa acht Animationen und Kurzspielfilme geboten. Soviel Variation entschuldigt manch schwächeren Beitrag, von denen es diesmal unter den internationalen Kurzspielfilmen einige mehr gab als im Vorjahr. Auch beim Publikum scheint dieses Konzept aufzugehen – mit 20.500 Zuschauern konnte das Filmfest Dresden erneut einen leichten Anstieg verbuchen.

Dem Festivalkino Metropolis am Rande der Neustadt ist zwar seine Vergangenheit als schlichtes Bofimax-Multiplex anzumerken, doch dafür kommt den nicht selten unter low-budget-Bedingungen entstandenen Kurzfilmen die seltene Ehre zuteil, in wunderbaren Sälen vor großem Publikum mit bester Bild- und Tonqualität präsentiert zu werden. Außerdem trägt die Lage des Kinos im idyllisch gelegenen Waldschlösschenareal oberhalb des Elbufers zur Konzentration der Örtlichkeiten bei. Und wenn wie in diesem Jahr der wohlmeinende Frühsommer durchblickt, dann ist von morgens bis in die Nacht am Waldschlösschen-Platz zwischen Kino, Gästezentrum, Festivalclub Dagmar und Restaurants ein schwärmerisches Treiben von Hobby- und Profi-Cineasten zu beobachten.

Liebe mit Behinderung

Leicht sei die Wahl des Kurzspielfilm-Gewinners gewesen, das eindringliche Filmgemälde Sheng Ri / Geburtstag, das sich von den „eher enttäuschenden“ anderen Spielfilmen „deutlich abhob“, so die Leipziger Filmwissenschaftlerin Karin Wehn, die neben den Filmemachern Maya Yonesho und Daniel Elliott der internationalen Jury angehörte. Grund dafür, dass man die ganze Nacht bis morgens um sechs um die Entscheidung rang, seien die interessanten Kandidaten für den Animations-Hauptpreis gewesen. Der Goldene Reiter ging letztlich an Une histoire vertébrale / Eine Geschichte von der Wirbelsäule von Jérémy Clapin, der mit einfachen Zeichnungen, 3D-animiert, dem Schicksal eines Mannes mit einer ungewöhnlichen Behinderung nachgeht. Der 90°-winklige Hals verwehrt ihm jede Liebesbeziehung, sogar der Kopf seiner Traumfrau als Pappfigur bricht ab, sobald er ihn zum Küssen verbiegen will – doch das Happy End naht. Die Entscheidung für diesen Film, der besonders durch die Wärme zu all seinen Figuren begeistert, ist auch ein Signal dafür, dass die Zukunft der Animation nicht nur durch immer raffiniertere Computeranimationen zu bestreiten ist. Dafür steht auch der Animationsgewinner im Nationalen Wettbewerb, Allerleirauh von Anja Struck – eine kuriose, gewaltsame, surrealistische Puppenanimation jenes gleichnamigen Märchens. Und wenn schon computeranimiert, dann so innovativ, dass man es noch nie zuvor gesehen hat, mag der aus Jena stammende Robert Seidel gedacht haben, der mit _grau einen faszinierenden 10-Minüter vorlegt, der mit elektronischen Sounds untermalt ungewöhnliche Formgebilde wachsen und verflüchtigen lässt. Den Fraktalen ähnlichen Gebilden liegen gescannte Gegenstände aus Seidels Kindheit zugrunde – auf ihn selbst wirken sie wie Erinnerungsfetzen eines Sterbenden. (Den Film kann man komplett und kostenlos unter www.grau1001.de downloaden.)

Von vielgestaltiger Animation ist Obras / Arbeit von Hendrick Dusollier. Der Film begibt sich auf eine melancholische Zeitreise und thematisiert die Sanierung ganzer Stadtteile Barcelonas. Der Blick fällt in die Altbauwohnungen voller Lebensgeschichten und Musik und wechselt zu den schrill tönenden Abrissbaggern und schnöden Betonneubauten, aus denen Musik nur noch blechern herausdringt. Für diese schwebende Tour durch Zeit, Raum und Ton erhielt Obras den KlangMusikPreis, der bereits im letzten Jahr an einen Film mit dem gleichen Thema vergeben wurde: Rawal Recycle.

Eine Lobende Erwähnung der internationalen Jury erhielt der Kurzspielfilm El otro sueno americano / Der andere amerikanische Traum, der in Reality-TV-Manier den Misshandlungen an einer Mexikanerin durch einen Grenzbeamten beiwohnt – vor lauter schockierenden Szenen aber nur fahrlässig kurz im Abspann über die wirklichen Missstände aufklärt. Eine andere Lobende Erwähnung erhielt Het Verborgen Gezicht / Das verborgene Gesicht von Elbert van Strien, der Großmutters Schlaganfall-Tod durch die phantasievollen Kinderaugen ihrer Enkelin als aufwendiges, aufregendes Horror-Movie inszeniert. Harmloser, auch in seiner filmischen Umsetzung, ist der sympathische Gewinner-Kurzspielfilm im Nationalen Wettbewerb, Morgenschwarm von Thomas Fröhlich. An der Straßenbahnhaltestelle wartet Morgen für Morgen ein Mann, bis sich wortlos mit subtilen Blicken und Gesten eine Frau in diesen Kosmos drängt – genauso schnell aber auch wieder verschwindet.

Liebes-Mathematik

Heiß geliebt war auch das umfangreiche Rahmenprogramm des Festivals, besonders die „Laugh Attack!“ im British Focus oder die Französischen Kurzspielfilme zum Thema Liebe, die sich völlig konträr zu jedem Klischee stellten. In Pocatille werden die immer wieder erforderlichen Liebesschwüre zu einem vergnüglichen mathematischen Problem: „Ich liebe dich mehr als gestern.“ – „Also hast du mich gestern nicht geliebt?“ Als atemberaubend bleibt die Hymne ? la gazelle / Hymne an die Gazelle von Stéphanie Duvivier in Erinnerung. Die pummelige Hausfrau Elisabeth schlittert unerwartet in eine wilde Liebesnacht mit dem unbekannten, soeben aus dem Gefängnis entlassenen Youssef. Zunächst mit Klischees beginnend durchdringt der Film immerfort und überraschend mit behutsamer Erzählweise jegliches Vorurteil – erscheint aber nicht als Aufklärungs-, sondern allein als großer Liebesfilm.

Das Filmfest Dresden ist aber nicht nur im April zu bewundern. Das sehenswerte Sonderprogramm der (halb)dokumentarischen Aufklärungsfilme der DEFA mit den vielversprechenden Titeln wie Keine Scheu vor heiklen Fragen oder Ist denn das schon Liebe? ist während der Nachspiel-Tournee auch in Leipzig zu sehen: vom 13.-15. Mai in der Schaubühne Lindenfels. Eine andere Filmauswahl wird im Sommer während der Dresdner Open Air Tage gezeigt. Wer andere Festivals besucht, mag Gelegenheit haben, die Prix UIP-Rolle zu sehen, die auch in Dresden gezeigt wurde – Filme, die für den European Film Academy Short Film-Prix UIP nominiert wurden. Und wer das kommende Jahr im Ausland verbringt, der stößt vielleicht auf die ein und andere Kurzfilmveranstaltung der weltweit 144 Goethe-Institute. Zusammen mit Festivalchef Robin Mallick wurden zu diesem Zweck deutsche Kurzfilme zusammengestellt, die erstmals auf DVD gepresst noch leichter zahlreiche Leckerbissen des Filmfests Dresden in die Welt exportieren. Auch Jan Verbeeks Film On a Wednesday Night in Tokyo ist dabei, eher ein Dokumentar- statt Spielfilm. In einer einzigen Einstellung ohne Kamerabewegung filmte Verbeek nichts weiter als Tokyoter beim Einsteigen in eine überfüllte Bahn. Der Einblick ist so simpel wie genial und trifft auf die Essenz des Kurzfilms: eine große Geschichte in nur sechs Minuten.

17. Filmfest Dresden

Internationales Festival für Animation und Kurzfilm

12. – 17. April 2005


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