Lichtvolles Aufbäumen und vorwärtstreibende Themen

Tomas Netopil dirigiert im 6. Rundfunkkonzert Boulez‘ „Notations“, Bartóks 3. Klavierkonzert und Dvoráks Siebte

Seitdem Pierre Boulez 1943 das Studium der Mathematik abbrach und begann, am Pariser Conservatoire Musik zu studieren, stand er unermüdlich im Dienst zeitgenössischer Musik. Als Komponist, Musiker und Lehrer hat er in seiner sechzigjährigen Schaffenszeit mehrere Generation geprägt, seine Schüler wie der jüngst mit dem MDR-Orchester im Gewandhaus musizierende Heinz Holliger sind schon selbst wieder als bedeutende Lehrer und Multiplikatoren im Sinne Boulez‘ tätig. Sein Name ist mit den Donaueschinger Musiktagen fest verbunden, sein Wirken in Paris u. a. als Gründer und langjähriger Leiter des IRCAM (Institut de Recherche et de Coordination Acoustique/Musique) und des Ensembles InterContemporaine machen ihn zu dem Protagonisten moderner Musik seiner Generation. Auf welche erfrischende Art man dieses musikalische Urgestein anlässlich seines achtzigsten angemessen würdigen kann, konnte man heute Abend erleben.

Da sind auf der einen Seite die beiden jungen Interpreten: Tomas Netopil, 29 Jahre jung, am Pult und der nur fünf Jahre ältere Markus Groh als Solist am Klavier. Dass Boulez die Förderung und vor allem die Heranführung der jungen Generation an moderne Musik ein Grundanliegen ist, hat er gerade im letzten Jahr mit der Gründung der Lucerne Festival Academy, wo sich junge Musiker mit zeitgenössischer Musik beschäftigen, anlässlich des Lucerne Festivals wieder unterstrichen.

Auf der anderen Seite überzeugt an diesem Abend das äußerst intelligente Programm: Zuerst Boulez‘ Notations für Orchester in einer an eine klassische Sinfonie erinnernde Anordnung. Die Komposition knüpft an Boulez‘ Opus 1, den Klavierzyklus Douze Notations von 1945, an, danach Bartóks letztes Klavierkonzert, welches der Komponist fünf Tage vor seinem Tod 1945 nur 17 Takte vor der Vollendung hinterlassen hat. Nach der Pause erklingt die 7. Sinfonie von Antonín Dvorák. In dem Werk Dvoráks von 1885 scheint die herannahende Moderne bereits anzuklopfen. Sonst oft in der Stimmung heiter und einer volkstümlicher Melodik verhaftet, komponierte Dvorák dieses Werk im dunklen d-Moll. Bis sich im Finale des Stücks das Kämpferisch-Pathetische durchsetzt, durchläuft man eine Fülle düsterer Ungewissheiten, in welchen vielleicht schon eine Ahnung vom Ende des romantischen Optimismus am Ende des 19. Jahrhunderts mitschwingt.

Die Instrumentierung von Notations sprengt die wahrlich nicht gerade kleine Bühne im Großen Saal des Gewandhauses: die Streicher in Maximalbesetzung, mehrere Xylophone, weiteres stattliches Schlagwerk, drei Harfen, eine Reihe Bläser musste sogar auf die Orgelempore ausweichen. Wie in der guten französischen Küche fungiert der erste Teil als neugierig machende Eröffnung: Die akustischen Poren werden geöffnet, die Sinne geschärft. Meist pizzicato werden durch die Streicher Akzente gesetzt, zu einer sehr trockenen Grundhaltung kontrastiert das Orchester in flächigen und räumlichen Stimmungen. Der heute an zweiter Stelle stehende siebente Teil eröffnet die Speisenfolge des Menüs. Besonders effektvoll entwickeln sich nun melodische Elemente der Streicher, verschiedene Themen erzeugen ein alternierendes Auf und Ab, das Blech setzt kräftige Akzente. Dann der zweite Gang: Das gesamte Orchester jetzt sehr dynamisch und nur unterbrochen, teils ergänzt, von einem faszinierenden Zauber der Xylophone. Der an die vierte Stelle verlegte dritte Teil bietet nochmals Erholung vor dem wie ein Finale wirkenden zweiten Teil. Ein klares Hornthema lässt einem zurücksinken, faszinierende Klangräume im Gestus von Filmmusik schaffen den nötigen Kontrast für das zum Schluss einsetzende Feuerwerk. Das ganze Orchester in einem dynamischen Flimmern vereint, vertikal dagegen erzeugt das Schlagwerk ein mächtiges Hämmern und Pochen mit welchen der Ausflug in die Klangwelt Boulez‘ für heute endet.

Für Tomas Netopil und das Orchester hat der Abend nach dem relativ kurzem Auftakt natürlich erst begonnen. Das 3. Klavierkonzert von Bartók strahlt in Ruhe und Besinnung, besonders im mit Adagio religioso überschriebenen zweiten Satz malen Markus Groh am Klavier und das Orchester ein gefühlvolles Bild verletzlicher Innerlichkeit. Der Mittelteil des zweiten Satzes in einer von Bartók schon in anderen Kompositionen erfundenen genialen Übersetzung von Naturphänomenen: die Streicher und Flöten in einem sommerlichen Flimmern nur behutsam gestützt durch das Klavier. Das Finale prägen volksliedhafte Rhythmen, Tempo kommt auf, außerdem nimmt das Klavier jetzt viel Raum ein. Besonders hier verstärkt sich das Gefühl zweier Geschwindigkeiten: Markus Groh stürmt bisweilen dem Orchester davon.

Nach der Pause dann ein Heimspiel für den Tschechen Tomas Netopil. Was er aus der 7. Sinfonie Dvoráks machte, löste am Ende im Saal Begeisterungsstürme aus. Tempo und Akzentuierung der Themen sind perfekt, die zarten Flötenmelodien können sich entfalten und im Raum nachklingen. Der tänzerische dritte Satz gerät zum Höhepunkt: in einer kristallklaren Linienführung lösen sich die einzelnen Stimmen voneinander, ohne dass der Zusammenhang aus dem Blick gerät; traumhaft schön die immer wieder solistisch eingesetzte Querflöte des Orchesters. Lichtvolles Aufbäumen und vorwärtstreibende Themen prägen das wundervolle Finale.

6. Rundfunkkonzert

MDR-Sinfonieorchester
Solist: Markus Groh, Klavier
Dirigent: Tomas Netopil

Pierre Boulez ( geb. 1925 )
„Notations“
für Orchester I – VII – IV – II

Bela Bartók ( 1881 – 1945 )
Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3 ( SZ 119 )
1. Allegretto
2. Adagio religioso
3. Allegro vivace

Antonín Dvorák ( 1841 – 1904 )
Sinfonie Nr. 7 d – Moll op. 70
1. Allegro maestoso
2. Poco Adagio
3. Scherzo. Vivace
4. Finale. Allegro

6. April 2005, Gewandhaus zu Leipzig, Großer Saal

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