Kommt er oder kommt er nicht?

Ricardo Chailly spielt Ligeti, Brahms und Bartók

Immer noch wird polemisiert und gerätselt weshalb, seit ein paar Wochen sogar wieder ob Riccardo Chailly sein Amt als Generalmusikdirektor der Oper Leipzig in der kommenden Spielzeit überhaupt antreten wird. Jeder persönliche Auftritt des Maestros an der Pleiße wird von den Gazetten gnadenlos zur Auflagensteigerung genutzt, einmal sind es zusätzliche Millionen, von denen Chailly sein Kommen abhängig mache, aktuell wälzt man gerade die Frage, ob eine Vakanz an der Mailänder Scala den Italiener verführen könnte, die Leipziger Pläne zu begraben. Zur Abwechslung mal ein Blick aus der entgegengesetzten Perspektive:
Die Wiederbelebung des seit Jahrzehnten unbesetzten Postens des Generalmusikdirektors der Stadt Leipzig ermöglicht Chailly gewaltige künstlerische Dimensionen als Doppelchef von Oper und Gewandhaus. Mit dem Gewandhausorchester, dem ältesten deutschen Konzertorchester, leitet er das größte Profiorchester der Welt, tritt dabei in die Fußstapfen Felix Mendelssohn Bartholdys, Arthur Nikischs, Franz Konwitschnys, um nur drei seiner weltberühmten Vorgänger zu nennen. In der Oper am Augustusplatz dagegen schlummern noch die Potentiale, welche sich das Haus Mitte der neunziger Jahre als modernes Musiktheater erarbeitet hat. Selbst die Hardware ist einmalig: mitten in der Stadt zum einen das Gewandhaus mit seiner exzellenten Akustik; direkt gegenüber das technisch und räumlich sehr gut ausgestattete Opernhaus. Künstlerische Möglichkeiten, historische Dimensionen: Chaillys Interpretationslust und Spielfreude am heutigen Abend scheint davon beflügelt zu sein. Charmant, kraftvoll und äußerst konzentriert erobert er das ausverkaufte Haus.

Ligetis Orchesterwerk „Lontano“ wurde zu den Donaueschinger Musiktagen 1967 uraufgeführt, Ligeti soll es selbst ironisch überspitzt als „das erste postmoderne Stück“ bezeichnet haben. Und tatsächlich hebt sich das Werk erstaunlich von anderen in dieser Schaffensperiode entstandenen Stücken Ligetis ab, wie beispielsweise das gerade vor drei Tagen beim MDR nebenan erklungene Streichquartett Nr. 2. „Lontano“ lebt von einer assoziativen Struktur. Anfangs leuchtet die Klarinette in einem Einzelton, die Flöten stoßen allmählich dazu, bevor die Streicher einen flimmernden hellen Teppich ausrollen. Bis zur ersten Klangsteigerung haben es diese hauchdünnen Farben sehr schwer gegen den das Leipziger Publikum quälenden Hustenreiz. Vielleicht sollte man – wie in der Kölner Philharmonie üblich – neben dem Programmheft etwas Schweizer Kräuterzucker reichen. Das Gewandhausorchester lässt sich glücklicherweise nicht beirren und folgt der feinsinnigen Führung Chaillys. Dem langsamen Anfangsthema folgt lebendiges gestrichenes Grummeln bevor es nach fast 10 Minuten zum einem hellen Aufbäumen im Blech kommt. Farb- und Melodiefetzen entstehen so schnell wie sie verschwinden und wiederauftauchen. In diesem Klangfarbenkosmos die genau kalkulierten Verschiebungen transparent zu machen, ist Chailly und vor allem auch dem Orchester trefflich gelungen.

An Brahms‘ Doppelkonzert nähert sich Chailly am heutigen Abend auf unprätentiöse, ja fast ruppige Weise. Alles Fließende wird zurückgedrängt, die Betonung der vertikalen Struktur lässt etwas Frisches, Unverbrauchtes aufkommen. Der kraftvolle Beginn des Orchesters vertreibt die letzten zarten Erinnerungen an „Lontano“. Nach einer winzigen wohlkalkulierten Pause setzt das Cello ein. Christian Poltéra spielt, als wäre ihm das eindringliche Rezitativ auf den Leib geschrieben. Mit technischer Leichtigkeit kann er sich ganz den aufwühlenden Stimmungen hingeben, bevor die Solistin des Abends, Janine Jansen, später das ganze Orchester, den Dialog aufnehmen. Ricardo Chailly lässt den jungen Solisten sehr viel Raum, oft in völliger Losgelöstheit harmonieren oder kontrastieren sie und probieren sich aneinander aus, das Cello meist nüchtern und überlegen, die Violine bäumt sich dagegen wie eine kleine quirlige Schwester auf.

Bartóks Konzert für Orchester setzt die Dramaturgie des Abends fort. Nach dem kontemplativen Ligeti und dem eher introvertierten, aber sehr farbenfrohen Brahms beginnt mit dem letzten Stück ein musikalisches Kaleidoskop. Zarte Flötenmotive, helle strahlende Posaunen, flimmernde Harfen, jagende Hörner – nur ein kleiner Ausschnitt aus der vor kreativer Energie berstenden Komposition. Anekdotische Stimmungen werden durch folkloristische Einstreuungen ergänzt, der meist schmerzliche Grundcharakter weicht erst im letzten Satz einem positiven Aufbruch. Durch die äußerst trockene Interpretation der Eingangssätze wird der Optimismus des Schlusssatzes gesteigert, in rasendem Tempo endet der Auftritt des neuen Gewandhauskapellmeisters.

György Ligeti (geb. 1923)
„Lontano“ für großes Orchester

Johannes Brahms (1833 – 1897)
Konzert für Violine, Violoncello und Orchester a-Moll op. 102
I. Allegro
II. Andante
III. Vivace non troppo

Béla Bartók (1881-1945)
Konzert für Orchester
I. Introduzione: Andante non troppo – Allegro Vivace
II. Giuoco delle coppie: Allegro scherzando
III. Elegia: Andante, non troppo
IV. Intermezzo interrotto: Allegretto
V. Finale: Pesante – Presto

Gewandhausorchester
Dirigent: Riccardo Chailly
Janine Jansen, Violine
Christian Poltéra, Violoncello

Freitag, 22. 4. 05, 20.00 Uhr, Gewandhaus Leipzig – Großer Saal

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