Songs vom anderen Ufer
Schwule Lieder von Jens-Uwe Günther, gesungen von Martin Reik
Premiere
24. April 2005, Neue Szene
Schwules Raubein mit harten Tatsachen
Da ist den Heten und Homos was entgangen, die nicht den Weg zur Premiere der „Songs vom anderen Ufer“ fanden. So weit entfernt ist dieses andere Ufer auch nicht, und egal, von welcher Seite man in die Wogen des Lebensflusses blickt, diese Songs zum Thema Männerliebe suchen ihresgleichen. Die Bandbreite der Texte ist groß: „Der gehorsame Diener“ von Paul Verlaine badet sich genussvoll in speziellen Sexvarianten und lässt keine harte Tatsache aus dem Spiel. Viele Texte von Andreas Reimann arbeiten mit Metaphern und assoziationsreichen Bildern. Das Schlusslied „Lass mich bleiben, wenn ich fortgeh“ – nach einem Text von Norbert Bischof – beschwört in fast spätromantischen Klängen eine lyrische Abschiedsszene herauf. Jens-Uwe Günther (bis 2002 musikalischer Leiter am Schauspiel Leipzig) hat die Texte aus verschiedenen Jahrhunderten vertont. Als Mann am Klavier begleitet er Martin Reik, dessen gesangliche Darbietung den ganzen Abend erfüllt und getragen hat.
Martin Reiks Interpretation ist frei von tuntigen Attitüden und androgynem Fistelgesang. Er mimt das schwule Raubein aus der süddeutschen Provinz, genauer – welch eine Ironie – aus Süßen, Klein-Süßen, um ganz genau zu sein. Im kleinstädtisch-protestantischen Mief hat man es als „untersetzte Tucke“ natürlich schwer. Nicht ohne Selbstironie reiht Martin Reik die Songs am roten Faden eines schwulen Lebenslaufes auf. Vom Coming-Out, über die erste große Liebe hin zur Flucht in die Unpersönlichkeit und Buntheit der Großstadt Berlin, nimmt er sein Publikum mit. Dabei wirkt der rote Faden nie konstruiert, manchmal verschwindet er, wird er überflüssig, weil die einzelnen Songs in ihrer Gefühlsintensität alles überstrahlen. Martin Reiks Vortrag ist rau, sehr an der Sprache orientiert, kraftvoll, authentisch, nie gekünstelt oder auf schwul gemacht. Er reißt jeden mit seinen Gefühlswogen mit. Bei diesem direkten Vortrag ist es völlig egal, auf welcher Uferseite man steht. Nur wenn die Männerliebe frauenfeindlich wird, so in einem Text von Deins de Saint-Pavin, fühlt man sich als Frau etwas deplaziert und bemüht sich, den Text eher historisch zu lesen.
Was macht Jens-Uwe Günther aus dieser Textfülle? Er steht ihr in variantenreichen Vertonungen in nichts nach. „Ich habe viel verloren“ von Hermann Ungar erklingt als Choral, „Endlied“ von Andreas Reimann wird zur Popballade, „Katte oder Liebe in Preußen“ von Ulrich Berkes zum spannungsgeladenen Melodram mit Marschrhythmen. Bei „Ludwig II.“ (Text: Kurt Bartsch) darf geschunkelt werden, Martin Reik krempelt die Hosen hoch und versucht sich am Schuhplattler. Nie drängt sich die Musik in den Vordergrund, doch sie unterstützt den Text, kommentiert, ironisiert ihn und lässt den Abend, trotz seiner großen Kontraste, wie aus einem Guss erscheinen.
Zu diesem geschlossenen Eindruck trägt auch Martin Reik bei. Er liebt die abrupten Anschlüsse, die das Klatschen nach dem Song schon im Keim ersticken. Hier gestaltet eben nicht ein Sänger seine einzelnen Nummern, um sich nach dem Schlussakkord im Applaus zu baden, hier versucht ein Schauspieler die Spannung zu halten, an der Geschichte dranzubleiben. Das geschieht teilweise etwas erzwungen, kaum endet ein Lied, springt Martin Reik in die Rahmenhandlung und bricht die Stimmung. Einige Lieder dürften noch etwas länger nachklingen, auf die Gefahr hin, dass ein Beifall den roten Faden für einen Moment lang kappt. Im lang anhaltenden Schlussapplaus durfte sich endlich die Emotion des Publikums entladen. Ein toller Abend.
(Babette Dieterich)
Nächste Vorstellungen: 17. und 27. Mai, 20 Uhr
Kommentar hinterlassen