Ein Höhepunkt zu Beginn: Johann Christian Bachs „Temistocle” wiederaufgeführt (Sebastian Schmideler)

Bachfest 2005:
Johann Christian Bach: Temistocle
Musikalische Leitung: Christophe Rousset
Les Talens Lyriques
Oper Leipzig
30. April 2005

Bild: Andreas Birjigt


Die Wiederentdeckung der opera seria „Temistocle“ von Johann Christian Bach – Ein Höhepunkt des Bachfestes 2005

Es ist erstaunlich, wie ein grundgelehrter Mann wie Johann Sebastian Bach, der sich bereitwillig einem mathematisch-mechanistischem Reglement unterwarf und das Paradebeispiel eines formstrengen, inspirierten, aber rationalen kompositorischen Denkers abgab, es post mortem zu solcher unerwarteten Popularität bringen konnte, dass er zu einer festen Größe unserer Erinnerungskultur avancierte. Davon profitieren noch heute seine längst vergessenen Söhne wie nun der jüngste, Johann Christian Bach, dessen opera seria „Temistocle“ bisher allenfalls einigen ausgefuchsten Kennern und spezialisierten Musikhistorikern für eine Offenbarung des Genres gelten konnte. Die gegenwärtige Konjunktur von wieder entdeckten Barock-Opern hat mit diesem, in der Oper Leipzig am 30. April 2005 erstmals seit der Uraufführung wieder erklungenen Werk allerdings einen wirklichen Glücksgriff zu verzeichnen.

Schon die Umstände seiner Entstehung standen unter einem guten Stern. Immerhin fand die Uraufführung 1772 am renommierten Mannheimer Hof Karl Theodors statt und auch als Vorlage des Librettos war dem professionellen Opernkomponisten Bach das Beste gerade gut genug: Kein Geringerer als Metastasio musste es sein.
Zu dieser Zeit war Musik noch ein Fest und ein Stück von diesem Gefühl, etwas Besonderes zu erleben, ist auch in die Wiederentdeckung dieser Oper in Leipzig als einer der Höhepunkte des diesjährigen Bachfestes eingeflossen. Denn dass der Barock-Event so gemessen feierlich verlief wie seine Vorlage versprach, ist Christophe Rousset und Les Talens Lyriques zu verdanken. Die hoch spezialisierte und dennoch sinnliche musikalisch-historische Aufführungspraxis, für die dieses Ensemble steht, bürgt für eine rundum angemessene Auseinandersetzung mit dem barocken musikalischen Material. Dabei ist es auch in diesem Fall wirklich Geschmackssache zu entscheiden, ob vibratolose Streicher nicht doch bisweilen eine ästhetische Zumutung darstellen oder Ausdruck eines nicht falsch verstandenen Purismus sein können.

Das Ensemble entschädigt durch ganz andere Qualitäten. Schon in der eröffnenden Ouvertüren-Suite werden von der Streichergruppe rasende Tempi in eleganter Exaktheit vorgetragen, die einem das Blut in den Adern stocken lassen. Die Rekonstruktion einer verlorenen Klangkultur auf alten Instrumenten fasziniert durch ungewohnte, in Leipzig ansonsten nicht gepflegte Musizierpraxis. Rousset bevorzugt einen schlanken, konzentrierten Stil, der die Klangfülle der spätbarocken Instrumental-Ensembles mit ausgezeichneter Nuancierung und Feinarbeit verbindet. Wie er das schicksalhaft wetternde Blech, das wie die Fata selbst durch die ganze opera seria geistert leitmotivisch hervortreten lässt, dass es in aller Macht strahlt und schillert, wie er die zarte Melancholie und die noch heute berückende Leuchtkraft der Holzbläser, die zu den schönsten Instrumenten dieser Epoche zählen, wie ein Goldschmied ziseliert, ist Ausdruck eines wahrhaft feinsinnigen Zusammenspiels. Und alle theoretische Zugrundelegung seiner Auffassung mündet in leidenschaftlicher Feurigkeit, in einer außergewöhnlich breiten Varianz der Abstufungen musikalischer Ausdrucksformen, zu deren stufenlosen Übergängen das Ensemble wie selbstverständlich in der Lage ist. Es reagiert wie eine Orgel mit aberhundert Registern, die aber lebendiger sind als der Mechanismus dieses Instruments. Auch der Phrasierungskunst und der barocken Ornamentik in den langen Rezitativ-Teilen wird höchste Aufmerksamkeit gewidmet: eine solche Detailversessenheit ist meisterhaft.

Solche enorme Konzentration auf den Orchesterpart ist im Fall dieser opera seria aber auch dringend notwendig. Denn zwischen der theoretisch fundierten Inspiration von Bach-Vater und der gereinigten Innovationskraft eines opera-seria-Reformers wie Bach-Sohn es war, liegen Nähe und selbstbewusste Emanzipation zugleich. Johann Christian Bach legt seine Orchesterpartien so an, dass sie die sängerische Melodie nicht allein begleiten, sondern so, dass die eigentliche innere Bewegtheit der Charaktere und die dramatische Ausgestaltung des Konflikts durch musikalische Affekte sowohl als eine Aufgabe der Solisten als auch insbesondere als eine der Instrumente erscheint. Denn durch das Orchester entsteht letztlich die beabsichtigte Gefühlslage, auf die es der Komponist abgesehen hat. Um dem Publikum diese bestechende Überzeugung sinnlich zu verdeutlichen, war Les Talent Lyriques die beste Adresse. Auf diesem Weg wurde ganz nebenbei auch erkennbar, woher Johann Christian Bachs Schüler Mozart sich unter anderem Inspiration verschaffte.

Doch diese Aufführung war darüber hinaus durch gute solistische Leistungen präsent. Ensemble-Mitglied Ainhoa Garmendia als Aspia, der Tochter des Temistocles, wuchs über sich hinaus und zeigte die Rolle in ihrer Tragik zwischen Privatheit der Liebe und Öffentlichkeit der Macht, indem sie die elegische Trauer Aspias stimmlich und darstellerisch überzeugend in den Vordergrund spielte. Marika Schönberg als ihre Rivalin Rossane repräsentierte die erzürnte Eifersüchtige – mit von Hass erfüllter Inbrunst und starker, dynamisch furioser Kraft, die ihrer schönen Stimme Glanz und darstellerische Glaubwürdigkeit verlieh. Der junge Counter-Tenor Reno Troilus als Sebaste bestach durch ein glockenhelles, in Volumen und Phrasierung jedoch noch etwas ausbaufähiges Falsett. Metodie Bujor gab einen würdigen, machtvollen Serse von graziler Strenge und der kalten Eleganz barocker Macht. Cecilia Nanneson als Temistocles‘ Sohn Nenocle war die Koloraturspezialistin des Abends, die der barocken Ornamentik und der damit einhergehenden kunstvoll verzierten Melodienführung auf stimmlich qualitätvollem Niveau Genugtuung verschaffte. Ähnliches gilt für Raffaella Milanesi als Lisimaco. Gute Leistungen von der Titelpartie des Temistocle, gesungen von Rickard Söderberg.

Ein Fest für das Auge waren die wunderbaren Kostüme von Louis Désiré, die persische Hofkostüme mit Kleidung der Gegenwart koppelten, mit Tätowierungsmustern spielten und der antiken griechisch-persischen Szenerie vollends gerecht wurden. Eine modernisiert barocke Auffassungen von Bühnenlicht gelang Michael Röger, der durch eindrucksvolle Beleuchtungseffekte Grenzen schaffte und Stimmungen untermalte. Gleiches gilt für die einfallsreiche Bühnenkonstruktion von Rifail Ajdarpasic und Ariane Isabell Unfried. Über einer mit Wasser gefüllten Drehscheibe war der Palast des Königs ähnlich einem verschiebbaren goldenen Käfig angeordnet, der schnelle Szenenwechsel und perspektivische Überraschungen ermöglichte. Eine moderne Variante für die vielen Raumeindrücke, die der barocke Zuschauer von einer opulenten Opernaufführung erwartete. Als Pendant für Wasser kann der Kiesboden gedeutet werden, der nicht nur interessante akustische Effekte erzeugte, wenn sich die Agierenden darüber bewegten, sondern der den elementaren Zwiespalt zwischen festem Boden unter den Füßen und dem Ungewissen des Wassers pars pro toto symbolisierte.
Franzisko Negrins Regiearbeit war nicht nur rundum in sich schlüssig, sondern stellt ein grandioses Beispiel dafür dar, wie über Gesten, symbolhaltige Bewegungen der statischen Welt der opera seria Leben eingehaucht werden kann. Negrin ordnet die Ensembles zwar in geometrischen Figuren an und lässt die Personen sich auch in solchen Formen bewegen, indem er mit magnetischer Anziehung und Abstoßung, mit dem Erheben auf erhöhte Orte und dem Verschwinden im Fallboden arbeitet und damit die Geometrie des Raumes zu seiner Regiearbiet nutzt. Er achtet aber auch auf eine sinnliche Körpersprache und eine posenlose schauspielerische Verdeutlichung der Konflikte.

Eindrücklich bleibt das Bild im Gedächtnis haften, wie Serse am Höhepunkt seines inneren Konfliktes mit einem Bein auf dem Kiesboden, mit dem anderen im Wasser steht. Auch das Spiel um die Nacktheit des Fußes als Zeichen für die Verletzbarkeit des noch so prachtvoll gekleideten Mächtigen ist eine sehr gelungene ästhetische Bereicherung des gegenwärtigen Körper-Diskurses. Negrins zu würdigende Leistung besteht darin, dass er der Musik gemessene choregrafische Gesten zur Seite stellt, die nicht überzogen sind, sondern ästhetisch-geometrisch angeordnet und zugleich melodramatisch wirken. Seine Arbeit vermag es, die überaus schlüssige Entwicklung des Konfliktes zu verstärken. Das Libretto Metastasios ist eine Meisterleistung eines historischen Psychogramms, eines folgerichtig entwickelten Konflikts um Liebe und Macht. Diese stufenweise Entwicklung, die hohe literarische Qualität besitzt, hat Negrin zu einer geschmeidigen Einheit geglättet, die äußerst plausibel wirkt: eine erstaunliche Leistung, weil sie ungesucht und aus sich selbst heraus aktualisiert.

(Sebastian Schmideler)

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