Ein feste Burg ist unser Bach

Der erste Mai in Leipzig und schon führt Dirigent Fabio Luisi die Bach-Randale an

Während auf dem Augustusplatz die Würste an politisch inkommensurablen Ständen braten, Bürgermeister Tiefensee sich für seinen Auftritt (gegen Nazis, für Arbeit) warmläuft und die ersten Helikopter für die klassische Mai-Soundscape sorgen, wird im Gewandhaus ein inoffizieller Rekord im Aus-dem-Konzert-Stürmen aufgestellt. Etwa alle fünf Minuten werden Rock und Anzughose gerafft und der Nachbar gebeten, doch kurz Platz zu machen. „Klapp“, macht es und wieder zwei weniger in der gar nicht so geneigten Hörerschaft. Was war geschehen?

Passend zum leidlich originellen Bachfest-Motto „Bach und die Zukunft“ hat Klangmagier Fabio Luisi Maurizio Kagels monumentale „Sankt-Bach-Passion“ aus der Mottenkiste der 1980er Jahre hervorgeholt und zum Klingen gebracht. Zur Schadensbegrenzung liegt ein extra dickes Programmheftchen vor, darin eine Apologie der „Sankt-Bach-Passion“ aus „christlich-theologischer Sicht“. Sowohl der strenggläubige Christ als auch der fundamentalistische Bach-Freund mögen sich durchaus auf die Füße getreten fühlen. Ein Komponist als Heiliger und Gottheit? „Ein feste Burg ist unser Bach“? Unser Bach – die religiöse Demut in Person?

Die Idee ist gut und verlockend. Die überdrehte Bach-Verehrung karikieren und gleichzeitig einem Komponisten durchaus ernsthaft huldigen. Text- und Musikfragmente aus allerlei Bach-Chorälen, dazu der berühmte Nekrolog und diverse andere Bach-Dokumente bilden das Libretto für Kagels Oratorium. Vertonte Biographie – das bietet spannende Ansatzpunkte für einen Komponisten, der sich ohnehin seit Anfang der siebziger Jahre hemmungslos an der Musikgeschichte bedient hat. Und tatsächlich ist alles von jener Gestalt, wie man sie von der „postmodernen Schule“ nun einmal erwartet. Viel Krach im großbesetzten Orchester mit Orgel, Cembalo, Klavier, Glockenspiel und gewaltigem Schlagzeugapparat, dann wieder tonale Flächen und harsche Explosionen. Alle Stationen von Bachs „Kreuzweg“ fließen recht langsam und tragisch vor sich hin – die entbehrungsreichen Lehrjahre, der frühe Tod der Frau, die Reibungen mit der Obrigkeit und schließlich die Krankheiten, die den Meister 1750 dahingerafft haben. Immer wieder scheint der Clown-Kagel durch: Nach der Aufzählung einer Liste der zwanzig Bach-Kinder erschallt ein entzückender Kinderchor, der sich beim lieben Vater für die Erschaffung bedankt. Besonders wirkungsvoll die vom Sprecher vorgetragene Rechtfertigung Bachs vor den verschiedenen Obrigkeiten, die ihn der Unverständlichkeit und Faulheit zeihen und schlicht meisterhaft die Montage von allerlei Demutsformels aus Bachs Briefen, eine beispiellose Tirade der Selbsterniedrigung. Dazwischen ist vieles allerdings wüst und leer. Die „Choräle“ werden immer einförmiger und da, wo er sich nicht auf das theatralische Element verlassen kann, ist Kagel manches Mal ein erstaunlich hausbackener Instrumentator. Luisi und Solisten geben dennoch ihr Bestes, die Passion doch noch zum Leuchten zu bringen. Oft bleibt nur ein müdes Glimmen zurück. Alle Schwachstellen der Passion vergißt man jedoch bei dem in seiner Drastik und Meisterlichkeit verstörenden Schluss – Ausbruch der Krankheit, Operation durch einen Quacksalber und schließlich der Tod. Der Tod kommt ohne Verklärung und Himmelfahrt, sondern so wie er ist – ein Stöhnen, ein Knirschen und dann ist es vorbei.

Maurizio Kagel: Sankt-Bach-Passion

Leitung: Fabio Luisi
Orchester, Chor und Kinderchor des MDR, Solisten

Sonntag, 1. Mai 2005, Gewandhaus, Großer Saal



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