Eine Versuchsanordnung zur „Festung Europa” bei den Wiener Festwochen (Steffen Kühn)

„Fort Europa“ – Hohelied der Zersplitterung
Uraufführung im Rahmen der Wiener Festwochen 2005
Sonntag, 8. 5. 05, 21.00 Uhr, Südbahnhof Wien

Text (Deutsch von Rainer Kersten):Tom Lanoye
Inszenierung:Johan Simons
Musikalische Leitung:de VennFabriek / Paul Koek
Komposition und Musikalische Bearbeitung:Krista Vincent / Ton van der Meer
Raum:Leo de Nijs
Lichtdesign:Uri Rapaport
Ton:Will-Jan Pielage
Dramaturgie:Paul Slangen
Kostümdesign:Sabine Snijders

Darsteller ZT Hollandia
Musiker Soil / Florien Hamer / Annette Schenk

Houellebecq lässt grüßen

Fort „Europa“ oder „Fort (aus) Europa“, vorgeschobene Befestigungsanlage oder das Verlassen des (alten) Kontinents? Der Ort des heutigen Abends – Wiens Südbahnhof – lässt eher an Verlassen/Abfahren denken. Tatsächlich versuchen Betty, Chris und Elsie mit dem Zug Europa zu verlassen, doch „Der (Zug) fährt nicht mehr“. Das Thema Migration einmal aus der Perspektive von Europäern, die nicht rauskommen.

Johan Simons und das Theaterensemble ZT Hollandia haben den Wiener Südbahnhof als (authentischen) Ort ihres Stückes gewählt. Alles spielt sich im völlig offenen Raum einer Wartehalle ab. Bahnreisende aus Venedig, Budapest oder Prag werden zu unfreiwilligen Mitspielern, wenn sie durch die Wartehalle hetzend ihren Zug erreichen wollen oder nach ihrer Ankunft in Wien der Stadt zustreben. Die dadurch entstehenden mehrdimensionalen Situationen verschaffen dem Stück dramaturgische Spannung, welche dem Text von Tom Lanoye nicht unbedingt immanent ist. 140 Minuten hoch komplexe Texte, meist monologisch, erfordern ein gehöriges Stück Enthusiasmus.

Wie sich einem Thema nähern, dass seit ein paar Jahren permanent in der öffentlichen Diskussion präsent ist. EU-Erweiterung nach Osten, Umgang mit anderen Kulturen in der abendländisch geprägten Union, Einwanderungs- und Gastarbeiterdiskussion und vieles mehr sind nicht mehr wegzudenkende Themen. Überreaktionen wie die infantile Diffamierung des „Alten Europa“ oder Jacques Chiracs Aufforderung an die neuen EU-Mitglieder, in wichtigen europäischen Fragen doch lieber erst mal den Mund zu halten, sind schon fast zur Gewohnheit geworden. Laute Töne, provokative Gesten – auch Johan Simons scheint von dieser „Kultur“ angesteckt.

Die drei Frauen, schon im fortgeschrittenen Alter, breiten ausgiebig ihr Leben als Prostituierte vor uns aus, eindimensional nur die Sicht des gewaltbereiten Mannes „Ein Kunde hat mir mal den Kiefer gebrochen, ich musst ihn trotzdem………….“. Jammern über diesen Kadaver von Körper ohne uns schmierige und brutale Details zu ersparen, dann der Wunsch doch noch mal ein Kind zu bekommen, oder das „Nachdenken“ über den Tod beherrschen die Monologe der Damen. In der Farbigkeit befindet man sich mit dem „Meister“ Houellebecq auf Augenhöhe, ohne sich der Ambivalenz zwischen Sexualität und Liebe anzunähern. Weitere Personen: eine Stammzellenbiologin – Thema Genforschung, ein Unternehmer – Thema Kapitalismus, ein belgischer Soldat – Thema 1. Weltkrieg, ein Chassid – Thema 2. Weltkrieg. Zwischen dem im Wartesaal sitzenden Publikum monologisiert alles munter zum Thema Europa drauf los. Die Schauspieler erreichen trotz der Schwere des Stoffes eine hohe Intensität, wie sie auch schon in der Konzeption ihre eigenen Namen behalten, schaffen sie eine faszinierende Übereinstimmung von Person und Rolle. Die im Text noch vorgesehenen dialogischen Elemente gehen in der Inszenierung oft in Unverständlichkeit unter, ein Tribut an den offenen Aufführungsort des Bahnhofs, der auf der anderen Seite durch die Zufälligkeit der entstehenden Situationen der Inszenierung etwas Drive verleiht. Offensichtliche Stammgäste des Bahnhofs schlurfen mit Bierbüchsen bewaffnet regelmäßig durchs Bild, ein Pulk von Reisenden lässt schon mal einen Schauspieler verschwinden, Eishockeyfans (gerade läuft die WM in Wien) skandieren winkend die Anhängerschaft an ihren Heimatverein. Mancher richtet sich auch permanent als Zuschauer ein, vor allem dann, wenn die Prostis sich näher mit ihrem Körper befassen.

Die Inszenierung gleicht einer Versuchsanordnung ohne Zielführung. Spannung erzeugt lediglich der Ort des Versuches und die Anordnung von Personen und Themen, der Ablauf selbst hinterlässt viele ratlose Premierenbesucher.


(Steffen Kühn)

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