60 Jahre Erinnern und Verklären

„Der Fall Gleiwitz” in der Reihe „Spurensuche Filmgeschichte”

Wenn dieser Tage an den sechzigsten Jahrestag des Kriegsendes erinnert wird, dann bedeutet das zugleich 60 Jahre unterschiedlichste Weisen des Erinnerns. In der DDR war das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg einerseits staatlich verordnet. In jährlichen Großinszenierungen erinnerte man an die Befreiung durch die Sowjetische Armee und den eigenen (kommunistischen) Widerstand – und frönte damit alljährlich seinem Gründungsmythos. Der Dimitroffschen Faschismustheorie zufolge sollte die Ausrottung des Kapitalismus dem Faschismus die Basis entziehen. Tatsächlich folgte daraus aber, dass allein den Opfern des Widerstands gedacht wurde und so gut wie gar nicht der größten Opfergruppe – den Juden. Obendrein wurde somit die eigene Auseinandersetzung mit dem Faschismus für überflüssig erklärt. Mit der Schuldfrage hätte sich nur noch die kapitalistische Bundesrepublik beschäftigen müssen.

Neben diesem offiziellen Gedenken gab es aber auch immer die eigenen, privaten und – häufig daraus ableitend – die veröffentlichten Erinnerungen. Schon Die Mörder sind unter uns (1946) von Wolfgang Staudte, der erste deutsche Nachkriegsfilm überhaupt und erste Film der DEFA, setzt sich mit der Schuldfrage auseinander. Spätestens im so genannten Tauwetter nach Stalins Tod in der zweiten Hälfte der 50er Jahre konnte sich die Auseinandersetzung mit dem Faschismus weniger dogmatisch gestalten. Ein Kind dieser Zeit ist Der Fall Gleiwitz (1961), ein Film von Regisseur Gerhard Klein und den beiden Drehbuchautoren Wolfgang Kohlhaase und Günther Rücker. Die Schaubühne Lindenfels zeigte ihn in einer Reihe zum Kriegsende vor 60 Jahren in Zusammenarbeit mit dem MDR und der Spurensuche Filmgeschichte der Universität Leipzig.

Erzählt wird der fingierte Überfall auf den deutschen Rundfunksender nahe der polnischen Grenze in Gleiwitz am 31. August 1939, der vor der Weltöffentlichkeit den Überfall auf Polen rechtfertigen sollte und damit den Beginn des Zweiten Weltkriegs markiert. Ganze 19 derartiger falscher Alibis soll Hitler in Auftrag gegeben haben; der Fall in Gleiwitz ist vermutlich der bekannteste. Der Film hält sich treu an die tatsächlichen Geschehnisse, so wie sie SS-Hauptsturmführers Helmut Naujocks vor einer britischen Vernehmungsbehörde und im Nürnberger Prozess zur Aussage brachte. Naujocks, gespielt vom jungen Hannjo Hasse, empfängt im Geheimauftrag sechs aus Polen stammende Volksdeutsche, die von einer SS-Schule nach Gleiwitz kommen. Von Berlin aus gibt Heydrich den Befehl zuzuschlagen. Die Angestellten des Reichssenders ahnen nichts, als die als Polen getarnten SS-Männer den Rundfunk überfallen und ihre vermeintliche Invasion über den Äther publik machen. Als „Beweis“ für den Überfall wird ein KZ-Häftling in eine deutsche Uniform gesteckt, vor Ort erschossen und zurückgelassen.

Der Film ist von einem ungewöhnlich nüchternen, beinah dokumentarischen Stil geprägt. Faszinierend wirkt noch heute die Arbeit des Prager Kameramanns Jan Curík, die an die attraktive Bildmontage Sergej Eisensteins erinnert. Pathetisch und heroisierend ist dieser Film nicht. Und so verwundert es kaum, dass Kritiker und Funktionäre ihm „mangelnde Parteilichkeit“ vorwarfen und ihm sogar unterstellten, er würde die Organisationsfähigkeit der Nazis verherrlichen. Dennoch erreichte der Film über eine Million Zuschauer.

„Im Kino geschah dann aber etwas sehr Zwiespältiges:“, schreibt Wolfgang Kohlhaase später. „Es entstand die gewünschte Distanz zum Dargestellten, aber auch eine Distanz zu den ungewohnten Mitteln dieses Films. Das war der Preis dafür, den Film mit dieser stilistischen Konsequenz zu erzählen, zu der ich stehe.“ Die ungewöhnliche Machart verschreckte die Zuschauer und führte dazu, dass der Film nur noch in Kunstkinos zu sehen war. Es ist, als ob die Ästhetik dieses Films seiner Zeit voraus war – durch die veränderten Sehgewohnheiten von heute wirkt er überraschend modern.

Mit einigen Schwierigkeiten kam Der Fall Gleiwitz auch in die Bundesrepublik Deutschland. Dort herrschte zu jener Zeit zwar keine staatlich verordnete, aber eine an politischen Vorbildern orientierte Nicht-Erinnerungskultur. Schweigen, Verdrängen und mürrische Entschädigungszahlungen an Israel waren zugespitzt die Essenz des frühen bundesrepublikanischen Umgangs mit der eigenen Geschichte. „Die Nazis“ wurden rückwirkend dämonisiert und zu Geisteskranken verklärt. Somit konnte das Unfassbare für unerklärlich abgetan und von der eigenen Schuld abgelenkt werden. In Der Fall Gleiwitz widersteht Regisseur Gerhard Klein dieser Versuchung und stilisiert den SS-Hauptsturmführer Naujocks eben „nicht zum bösartigen Außenseiter der Gesellschaft; er erscheint in seiner Gewissenlosigkeit vielmehr als Exponent und beinah notwendige Folge seiner verbrecherischen Umwelt, als ein Rad im Getriebe, das fast beliebig auswechselbar gewesen wäre.“, schreiben Dieter Krusche und Jürgen Labenski.

Vielleicht ist gerade dies der Grund dafür, dass einst der Bonner interministerielle Ausschuss – der alle Filme aus dem sozialistischen Ausland zensierte – den Fall Gleiwitz erst in zweiter Distanz genehmigte und mit der strengen Auflage versah: „Nur unter Bedenken für Filmklub-Veranstaltungen zugelassen.“ Auch heute noch, 40 Jahre später, zeigt eine solche Entscheidung trotz mittlerweile aufgehobenen Verbots ihre Wirkung: Ganze drei Zuschauer hatten sich in die Vorführung des Fall Gleiwitz in die Schaubühne verirrt.

Dabei ist Der Fall Gleiwitz ein heimlicher Meilenstein der DEFA. Denn über seine optischen und erzählerischen Reize hinaus wirkt er in seiner Art des Erinnerns, indem er mit kühler Präzision einen Teilaspekt des Faschismus seziert, ehrlicher und aufrichtiger als so manche neuere Filmproduktion. So imposant Der Untergang (2004) auch ist, er zeigt die Naziwelt wie ein geschlossenes Theaterstück, das ohne unser Zutun zum Finale schreitet und genauso ohne unser Zutun entstanden zu sein scheint. So wunderbar Sophie Scholl – die letzten Tage (2004) auch ist, er stilisiert die junge Widerständlerin zu einer Heldin, einer Heiligen. Beides, das geschlossene Theaterstück und die Heilige, entfernen die Geschehnisse von uns selbst. In dem einen Fall hat uns – oder unsere Eltern und Großeltern – die Naziwelt überrumpelt. In dem anderen Fall konnte ja nicht jeder ein Heiliger sein und Widerstand leisten. Beide Male ist das Geschichtsbild ein trügerisches.

Geschichtsschreibung ist immer auch ein Stück weit Geschichtenerzählen. Es lohnt sich – ob in Film oder Politik – hinzuschauen, wer uns welche Geschichte weismachen will.

Der Fall Gleiwitz

DDR 1961, 70 min., s/w
Regie: Gerhard Klein
Drehbuch: Wolfgang Kohlhaase, Günther Rücker
Kamera: Jan Curík

Schaubühne Lindenfels, 5. Mai 2005

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