„Die Schöpfung”: Uwe Scholz\‘ legendäre Choreographie wiederaufgeführt (Ingo Rekatzky)

„Die Schöpfung“
Inszenierung, Choreographie: Uwe Scholz
Bühne: Bernhard Schröter
Kostüme: Dorothea Weinert
Musikalische Leitung: Balázs Kocsár
Choreinstudierung: Stefan Bilz

Gabriel, Eva: Anna Markowska
Uriel: Martin Petzold
Raphael, Adam: Thomas Oertel-Gormanns
Alt-Solo: Inga Lampert

Oper Leipzig, 20.5.2005

(Bilder: Andreas Birkigt / Oper Leipzig)

„Und Ordnung keimt empor“ – Zur Wiederaufnahme von Uwe Scholz‘ Choreographie „Die Schöpfung“

Kaum eine andere Choreographie ist so eng mit dem Leipziger Ballett verbunden wie Uwe Scholz‘ Adaption von Joseph Haydns Oratorium „Die Schöpfung“, mit der er 1991 in Leipzig seinen Einstand als Ballettdirektor gegeben hat. Weit über 60 Aufführungen, darunter zahlreiche Gastspiele in Europa und Übersee, künden von dieser geglückten Symbiose zwischen dem Leipziger Ballett und ihrem einstigen Chefchoreographen. Entsprechend hoch waren nach Uwe Scholz‘ Tod die Erwartungen anlässlich der Wiederaufnahme am 20. Mai in der gut besuchten Leipziger Oper.

Die Choreographie zu Joseph Haydns 1798 uraufgeführtem Oratorium „Die Schöpfung“ stand seinerzeit programmatisch am Beginn einer neuen, neoklassizistischen Ära des Leipziger Balletts. Und in dieser Produktion wird noch jetzt die besondere Qualität des Choreographen Uwe Scholz deutlich, nämlich der hohe Respekt vor der musikalischen Vorlage und die große Begabung, Musik in Tanz und körpersprachliche Bewegung zu transformieren. Scholz hat sich nicht der Versuchung ergeben, die Schöpfungsgeschichte im Sinne eines Handlungsballetts nachzuerzählen, auch ist für ihn das Libretto sekundär gewesen: Seine „Schöpfung“ ist scheinbar aus dem jeweiligen musikalischen Moment hervorgehender, absoluter Tanz, der zusammen mit Haydns Oratorium und den jeweiligen, an den Rückprospekt projizierten Aquarellen aus Francesco Clementes 1985 entstandenem Zyklus „CVIII Watercolors Adayer“ ein Gesamtkunstwerk bildet.

Analog zur neu erschaffenen Erde ist in Uwe Scholz‘ „Schöpfung“ auch die Bühnenwelt „im Anfange“ wüst und leer, muss auch hier erst Ordnung in das Chaos gebracht werden. Wenn sich während der ersten Takte der Musik langsam der Vorhang öffnet, sind die Beleuchtungsbrücken bis auf den Bühnenboden heruntergefahren und geben nur langsam den Blick auf das Corps de Ballet frei, dessen Mitglieder – allesamt noch in Trainingskleidern – im Hintergrund aus der ersten Position heraus in stereotyper Wiederholung jeweils ein Bein seitlich ausschwenken und wieder einziehen. Die erste Ordnung entsteht auf der Bühne zeitgleich zum donnernden Höhepunkt des Vorspiels, indem das Corps de Ballet hinter den vom Schnürboden heruntergelassenen Gassen verdeckt wird. Auf den Prospekt werden nun auf hellem Hintergrund dunkle, sich nur langsam variierende und allmählich verblassende Gebilde projiziert, die der Szene ebenso wie die noch folgenden, sich abstrahiert mit dem Schöpfungsmythos auseinandersetzenden Aquarelle Francesco Clementes eine stimmige Impression geben, ohne allerdings das Bühnengeschehen je zu dominieren.
In dieses Arrangement schreiten die Tänzer während der ersten Takte von Raphaels Rezitativ über die Schaffung des Himmel und der Erde mechanisch herein, finden sich langsam einander an der Hand nehmend zu einem (Welten)-Kreis und erwachen, die Arme dem Himmel entgegenstreckend, erst vollends zum Leben, als der Chor den Durchbruch des Lichtes verkündet. Die metaphorisch-choreographische Umsetzung des Werdens der Welt entfaltet hier eine stark affektive Kraft, die sich frei von falschem Pathos unmittelbar auf das Publikum überträgt: der gewaltigste Moment in Scholz‘ „Schöpfung“.

Im weiteren Verlauf des Abends findet das Corps de Ballet aus der Darstellung der Naturgewalten oder der ekstatischen Freude immer wieder zu organischen, die vollkommene Ordnung und Vielfalt der „Schöpfung“ symbolisierenden Formationen zusammen. Aus dem Massenkörper schälen sich mitunter die Solisten urplötzlich heraus, wofür hier nur stellvertretend das großartige, die Ohnmacht des Individuums vor der Vollkommenheit der Schöpfung thematisierende Terzett vor der Pause von Kiyoko Kimura, Christoph Böhm und Giovanni di Palma im Wechsel mit der Gruppe genannt werden soll.
Bei alledem ist Scholz‘ „Schöpfung“ nicht vor Wiederholungen gefeit. So ist es originell und sehr wirkungsvoll, wenn das Corps de Ballet die musikalische Struktur der Chorfuge „Stimmt an die Seiten“ zum Lobgesang des dritten Tages in vier Gruppen einander nachfolgend tänzerisch umsetzt, bei den nachfolgenden Fugen aber wenig überraschend und irgendwann berechenbar. Dennoch kommt zu keiner Zeit Langeweile auf, da Scholz‘ zur Wiederaufnahme perfekt einstudiertes Werk aufs Engste an die Musik gebunden ist und somit beinahe die Illusion entsteht, die Choreographie würde aus dem Augenblick heraus von den Tänzern neu geschaffen, sodass kaum etwas willkürlich wirkt. Einzig, dass die Herren zum Rezitativ Raphaels „Nun öffnet sich der Erde Schoß, / Und sie gebiert auf Gottes Wort / Geschöpfe jeder Art, / In vollem Wuchs und ohne Zahl“ mit gespreizten Beinen in die Hocke gehen müssen, erzeugt unfreiwillige Komik, die aber sogleich aufgefangen wird, da Scholz einer plakativen Nachahmung der Landtiere nicht erlegen ist.

Jede einzelne der großartigen solistischen Leistungen aufzählen zu wollen, würde zwangsläufig den Rahmen sprengen. Zu nennen sind aber unbedingt Giovanni di Palmas graziles Solo zu Uriels Rezitativ „In vollem Glanze Steiget jetzt / die Sonne strahlend auf“, Oksana Kulchytskas und Christoph Böhms Pas de deux, in dem beide in technischer Perfektion und getragen von den wunderbaren Streichern um Konzertmeister Stefan Arzberger majestätisch und doch federleicht-elegant den Flug des Adlers nachempfinden lassen, und Yuichiro Yokozekis allmähliche Menschwerdung. Der siebte Tag wird sowohl durch den anmutigen, gegenseitiges Vertrauen und Geborgenheit versinnbildlichenden Pas de deux von Kiyoko Kimura und Christoph Böhm, als auch von jenem unbeschwerten, mitunter kokett-verspielten von Elena Tumanova und Mohamed Youssry gekrönt. Beide Tänzerpaare gehen als Adam und Eva in ihrer Zweisamkeit auf, scheinbar eins mit der Natur und die Welt um sie herum vergessend.

Musikalisch getragen wurde die Aufführung vom – abgesehen von kleinen, verzeihbaren Wacklern im Blech – solide spielenden Gewandhausorchester. Balázs Kocsár gestaltete sein Dirigat mit den für Haydns „Schöpfung“ entscheidenden kontrastiven Abstufungen in Tempo und Dynamik sowie dem richtigen Maß an Pathos. Dass es „Licht ward“, war dank des Orchesters auch auditiv wahrnehmbar und durch den Zuschauerraum tobten mitunter „brausend heftige Stürme“, ohne dass hierbei die lyrisch-idyllischen Momente der „Schöpfung“ zu kurz gekommen wären.
Von den Podesten zu beiden Seiten des Orchestergrabens gestaltete der von Stefan Bilz präzise einstudierte Chor routiniert die hymnischen Lobgesänge und begeisterte durch wunderbar transparenten Klang im Wechselgesang mit Adam und Eva.
Die Sopranistin Anna Markowska überzeugte vor allem in den zarten Passagen ihrer Partien, ließ es allerdings hier und da an Souveränität im Forte sowie an Textverständlichkeit fehlen. Großartig gelang ihr aber Gabriels Arie am fünften Schöpfungstag, traumhaft sanft brachten ihre trillerartigen Koloraturen das Taubenpaar zum Girren, und anmutig ließ sie mit der fabelhaften Soloflöte den Gesang der Nachtigall nachempfinden. Für größere Aufgaben empfahl sich erneut Chorsolist Thomas Oertel-Gormanns. Kraftvoll und markant gestaltete er den Raphael, sehr lyrisch hingegen die Partie des Adam, dessen Duett „Von Deiner Güt‘, o Herr und Gott, / Ist Erd‘ und Himmel voll“ mit Anna Markowska als Eva zu einem musikalischen Glanzpunkt des Abends wurde. Ohnehin sind die Solisten in den Tuttipassagen, im Finale noch um die junge Altistin Inga Lampert zum Quartett ergänzt, wunderbar harmonisch miteinander verschmolzen. Dass die Leipziger Oper in ihrem Ensemble auch über einen gefragten Oratoriensänger verfügt, hat Martin Petzold als Uriel unter Beweis gestellt. Mit tenoralem Glanz und weitestgehend unangestrengt gestaltete er die Arien, intensiv und die Intention betonend hingegen die Rezitative. Allein Uriels Mahnung vor dem Finale „O glücklich Paar, und glücklich immerfort, / Wenn falscher Wahn euch nicht verführt, / Noch mehr zu wünschen, als ihr habt, / Und mehr zu wissen, als ihr sollt“ tröstete durch Petzolds Interpretation darüber hinweg, dass auf der Bühne ausgerechnet zu diesen verhängnisvollen Versen kaum etwas geschehen ist.

Bekanntermaßen geht der Schöpfungsmythos ebenso wie die Geschichte der Menschheit über jenen mahnenden Ausspruch hinaus. Scholz hat sich hier allerdings einer Deutung weitestgehend entzogen, indem das Corps de Ballet mit leicht geneigtem Blick erstarrt auf der kaum ausgeleuchteten Bühne steht. Erst im furiosen Finale erwachen die Tänzer wieder zum Leben und formieren sich letztendlich erneut in dem Weltenkreis wie zu Beginn des Schöpfungsaktes, nun aber wohl auf einem anderen, vielleicht gar höheren Niveau. Statt der silbrig-grauen Trikots trägt die Tanzkompanie nun Kleider und Hosen aus weißem Stoff. Die Beleuchtungsbrücken werden wieder sichtbar, befinden sich aber diesmal deutlich in räumlicher Distanz zum Bühnengeschehen. Trotz Gefährdung ein unendliches Streben dem Ziele entgegen? In Uwe Scholz neoklassizistischer, den Anspruch auf ein autonomes Gesamtkunstwerk erhebender Choreographie von Haydns „Schöpfung“ sicherlich ein legitimer Ansatz.

Nach fast zehnminütigem kräftigen Applaus und Jubelrufen wohl verdiente stehende Ovationen für alle Beteiligten.

Weitere Aufführungen der „Schöpfung“ sind am 22., 28., und 19. Mai sowie am 4. und 11. Juni 2005 geplant, danach wird diese Produktion vorerst vom Spielplan genommen.
Ab 18. Juni 2005 ehrt die Leipziger Oper mit einer Gala „Für Uwe Scholz“ posthum den verstorbenen Choreographen. Unter der musikalischen Leitung des renommierten Ballettdirigenten Myron Romanul zeigen das Leipziger Ballett und ehemalige Weggefährten des Verstorbenen wie Vladimir Derevianko, Mark McClain oder Joan Boix einen Querschnitt aus dem vielfältigen Schaffen des Uwe Scholz.

(Ingo Rekatzky)

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