Die vierte „MDR-Sendermusik” präsentiert moderne russische Kompositionen
Unmittelbar nach dem Tod Schostakowitschs 1975 hat Schnittke sein Präludium geschrieben, eine schmerzhafte, aufwühlende Musik. René Bogner spielt mit einer körperlichen Intensität, als läge der Verlust des großen Mentors der russischen Musik erst ein paar Tage zurück, die zum Teil etwas überhastet geratenen Töne des perkussiven Beginns verstärken dabei gerade noch den Eindruck persönlicher Betroffenheit. Live wird das Hauptmotiv entwickelt, bevor das Tonband zur Seite tritt und ein ruhiger Dialog beginnt. Am Ende nähern sich beide Stimmen – Bogner und das Tonband – aneinander an, in einer schwebenden, sich entfernenden Stimmung endet das Stück optimistisch. Ein sinnlicher Ausblick zum musikalischen Erbe, zu den Schostakowitsch-Schülern Ustwolskaja, Denissow und Gubaidulina.
Galina Ustwolskaja ist vielleicht die eigenwilligste russische Komponistin. Wie schon in der Sowjetzeit arbeitet sie auch heute noch völlig zurückgezogen. Auftragskompositionen soll sie mit dem Hinweis auf ihre künstlerische Unabhängigkeit ablehnen. Ihr „Gebet“ ist in vielerlei Hinsicht einmalig: In der Besetzung stehen der Altistin Trompete, Tamtam und Klavier zur Seite. Haarkleine szenische Anweisungen bis hin zur Kleidung der Sängerin „schwarz gekleidet bis zum Boden….“ formulieren einen fast liturgischen Anspruch. Zu Beginn wiederholt die Trompete asketisch eine einfache eingängige Tonfolge, Tamtam und Klavier setzen geräuschartig schroffe Klangkombinationen dagegen. Das gesungene Gebet besteht aus wenigen russischen Worten. Durch die beständige Wiederholung in getragener Stimmung kommt die Erinnerung an einen russisch-orthodoxen Gottesdienst auf. Aber Ustwolskaja liebt die Extreme: im zweiten eruptiven Teil dann viele schrille Töne. Hart und dynamisch Tamtam und Klavier, die Trompete bohrt sich ins Ohr.
Die Musiker des MDR hinterlassen heute den Eindruck, sie hätten nie etwas anderes gewollt als sich mit Musik aus Russland zu beschäftigen. Mit Verve lassen sich Sängerinnen wie Instrumentalisten auf das breite Spektrum nahezu aller Gattungen, natürlich vor allem Moderner ein. Die oft spezifischen russischen Stimmungen in Farbe und Modulation gelingen vor allem den Solistinnen exzellent.
Gubaidulinas „Wenn der Pott aber nu en Loch ha“ bringt nach den religiösen und ernsten Themen eine heitere Komponente. In ironischer Manier benutzt die Komponistin den bekannten Text von der (dummen) Liese. Musikalisch nahezu tonal, getragen von einem assoziativen, die Verse einleitenden Thema, entsteht fast ein Stück Musiktheater. Klaudia Zeiner erreicht dabei szenische Präsenz, trotz ihrer tiefschwarzen Kleidung, die noch aus der Regieanweisung von Galina Utswolskajas „Gebet“ herrührt.
Der Sendesaal am Augustusplatz ist heute einmal mit mehr als nur einer Handvoll Leuten gefüllt. Ob es an einer spezifischen Affinität des Publikums zu Russland liegt? Auf der anderen Seite bietet das heutige Programm einen wunderbaren Querschnitt musikalischer Tendenzen der letzten 30 Jahre. Schnittke nach Erfahrungen der Moderne bei einem Stil angekommen, der alte Satztechniken mit neuen Formen kombiniert. Wustin, ein Vertreter der bewussten Konstruierbarkeit von musikalischen Stilmitteln, im Gegensatz dazu die dunkle geheimnisvolle Musik Ustwolskajas. Valentin Silwestrow aus Kiew, einer der wenigen die nicht aus Moskau oder St. Petersburg kommen, verfolgt seit den 70er Jahren einen traditionalistischen Weg der Neoromantik. Dass trotz unterschiedlichster Charaktere so etwas wie ein typisch russischer Sound entsteht, hängt sicher mit der Tradition zusammen, musikalisch und zeitgeschichtlich aufeinander zu reagieren. Das Hauptmotiv in Schnittkes Requiem hat die Initialen des Widmungsträgers D-S-c-h, Silwestrow benutzt in Postludium I das Monogramm d-es-c-h, welches auch Schostakowitsch oft verwendete, Katia Tchemberdji, die jüngste Komponistin des Abends, setzt mit dem „Andante in memoriam Alfred Schnittke“ die Tradition des Kommentierens musikgeschichtlicher Ereignisse fort. Wie reizvoll diese spezifische Form der musikalischen Kommunikation in Russland des letzten Jahrhunderts ist, konnte man heute eindrucksvoll hören.
4. Sende(r)musik – Blickpunkt Russland
Alfred Schnittke (1934-1998)
Präludium in memoriam D. Schostakowitsch (1975)
für zwei Violinen (für Violine und Tonband)
Alexander Wustin (geb. 1943)
Kleines Requiem für Sopran und Streichquartett (1994)
1. Requiem aeternam – 2. Dies irae – 3. Recordare – 4. Confutatis
Galina Ustwolskaja (geb. 1919)
4. Sinfonie „Gebet“ für Alt, Trompete, Tamtam, Klavier (1988)
Valentin Silwestrow (geb. 1937)
Postludium III für Violoncello und Klavier (aus: Drei Postludien, 1980)
Katia Tchemberdji (geb. 1960)
Andante in memoriam Alfred Schnittke
Für Viola, Violoncello und Klavier (1998)
Edisson Denissow (1929 – 1996)
„Blätter“ nach Francisco Tanzer für Sopran und Streichtrio (1978)
Begegnung „Auf dunklen Wegen“ – Einsicht „Ein Schweigen steht zwischen uns“
Blätter „Blätter im Frühling“ – Wohin „Wohin gehöre ich“ – Das Ende – „Sie spritzen Gift“
Sofia Gubaidulina (geb. 1933)
2 Lieder aus deutscher Volkspoesie (1988)
für Mezzosopran, Flöte, Violoncello und Cembalo
1. Streitlied zwischen Leben und Tod
2. Wenn der Pott aber nu en Loch hat
Valentin Silwestrow
„Postludium DSCH“ (Postludium I aus Drei Postludien, 1980)
für Sopran, Violine, Violoncello, und Klavier
Mitglieder des MDR – Rundfunkchores
Mitglieder des MDR – Sinfonieorchesters
Dienstag, 25. 5. 05, 20.00 Uhr, MDR-Studio am Augustusplatz
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