Der Erfolgskurs hält an: Giacomo Meyerbeers „Margherita” ist konzertant im „Belcanto-Zyklus” der Oper Leipzig
„Es ist dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen.“ Sagt Goethe. Schade nur, dass ausgerechnet das bisher ambitionierteste Projekt des Leipziger „Belcanto-Zyklus'“ als weiteres Beispiel dafür herhalten kann, um die altväterische Sentenz zu bestätigen. Denn trotz der versprochenen szenischen Darstellung von Giacomo Meyerbeers ausgetüfteltem Melodramma semiserio „Margherita d’Anjou“ blieb es am 27. Mai 2005 bei einer konzertanten Aufführung – krankheitsbedingt, wie es hieß.
Damit hat das Opernhaus eine nicht ganz unbedeutende Chance verschenkt: Leipzig wäre der erste Ort gewesen, erklärt der Berliner Musikwissenschaftler und Meyerbeer-Spezialist Jürgen Maehder, in dem eine der vergessenen Meyerbeer-Opern wieder szenisch aufgeführt worden wäre. Dass es nicht dazu kam, ist bedauerlich. Denn mit dieser Pioniertat wäre die durchaus beträchtliche Bemühung um den Belcanto unter der Intendanz von Henri Maier nichts weniger als geadelt worden. Denn während die beiden vorangegangenen Bellini-Aufführungen von „La Sonnambula“ und „I Capuleti e i Montecchi“ Stücke bedienten, die schon fast ins Belcanto-Repertoire gehören, wäre die „Margherita“ eine echte Neuentdeckung gewesen. Nun wird das 17. Rossini-Festival in Wildbad noch in diesem Sommer das Privileg einer szenischen Aufführung mit Meyerbeers „Semiramide“ für sich in Anspruch nehmen können.
Aber Jürgen Maehder ist für seine abgerundete Idee nicht genug zu danken, denn er war es nicht zuletzt, der sich als eigentlicher Initial-Zünder des interessanten Unterfangens für einen Lorbeerkranz für Meyerbeer in Leipzig stark gemacht hatte. Mit stattlichem Erfolg: denn parallel zur Aufführung der „Margherita“ war ein respektabler „Meyerbeer-Kongress“ unter seiner Leitung in Zusammenarbeit mit der Oper ausgerichtet worden, bei dem die Aufführung des vergessenen Belcanto-Melodramma den künstlerischen Höhepunkt der wissenschaftlichen Beschäftigung bildete. Und es wäre ein schönes Ineinandergreifen geworden von Wissenschaft, musikhistorischer Entdeckerlust, sängerischer und orchestraler Opulenz und einer – wie zu erwarten gewesen wäre – streitbaren und anregenden Inszenierung von Katja Czellnik, die mit modernen Bildern aus der Sport-, Fitness- und Medienwelt gearbeitet hätte.
Leider kommentierte das Leipziger Publikum die als Alternative zur szenischen Darstellung angebotene konzertante Version auf seine Weise: ein gut Teil blieb fern. Und so waren es vor allem Interessierte und Spezialisten, die im nur ziemlich gut besuchten Opernhaus eine mit Spannung erwartete Wiederentdeckung erleben durften. Dafür wurde diesem „Fähnlein der sieben Aufrechten“ aber auch ein wunderbar entschädigendes Musikerlebnis präsentiert, das über die für das Verständnis der Musik allerdings nicht ganz unwichtigen, aber nun verlorenen szenischen Eindrücke mehr als hinwegtröstete.
„Margherita d’Anjou“ erscheint auf den ersten Blick als eine gefällig konstruierte Historienoper aus der Zeit der Rosenkriege im Spannungsfeld von Opera seria und Opera buffa. Sie enthält alle gängigen Topoi, die man vom Genre des Belcanto erwartet: Hohe Standespersonen im Konflikt mit ländlich-bäuerlichem Milieu, Vivat-Chöre, Rollentausch und Inkognito-Spiel, geheimnisvoll romantische Nacht-, Land- und Waldmotivik in den bekannten Konstellation, martialische Massenszenen, ineinander mit privaten Liebeskonflikten verwobene Haupt- und Staatsaktionen, einen Buffo-Charakter in Gestalt des intriganten Arztes Michele Gamautte, der für den italophilen Meyerbeer-Librettisten Felice Romani natürlich nur ein Franzose sein konnte, historisches Kolorit in hinreichend eindeutiger Ausstattung, hochdramatische Sentimentalitäten etc. pp.
Doch ähnlich wie in „La Sonnambula“ entwickelt sich jenseits der Stereotypen im Libretto und wohlgemerkt auch in den Kantilenen eine romantisch-psychologisierende Metaebene, bei deren genauerer Betrachtung das eigentlich interessante Konglomerat der Konflikte freigelegt werden kann. Dieses besondere Konfliktpotenzial besteht zum einen in einer neuartigen, üppigeren Instrumentierungskunst, die bis hin zu konzertartigen Solokadenzen der Solovioline als Begleitung einer reich ornamentierten Arie der Königin reichen (wunderbar Christian Funke als virtuoser Figurenspezialist aus dem Gewandhausorchester). Zum anderen besteht das Besondere der Oper in seiner musikhistorischen Zwitterstellung, die hochdramatische Konflikte mit komischen Elementen mischt, indem der durch seine Feigheit komisch wirkende französische Arzt am Ende der Oper in einen hochdramatischen sängerischen Solistenwettstreit um den politischen Nexus der Oper eingebunden ist, der eigentlich zutiefst ernster, dramatischer Natur ist. Zum dritten ist die Personencharakteristik so angelegt, dass die der Opera seria entlehnte, in diesem Sinn musikalisch durchgestylte, in Kaskaden brillierende Königin durch die private Natürlichkeit und solistisch farbiger schattierte Ursprünglichkeit ihres Contreparts der Herzogin Isaura von Lavarenne übertrumpft wird. Das ist ein kompositorisch-librettistischer Filoustreich, denn Isaura avanciert so zur eigentlichen Heldin des Stückes, der das Mitgefühl des Publikums sicher ist. Zum vierten ist die musikdramatische Orchestrierung in ihrer Furiosität, Leidenschaftlichkeit, Schattierung extremer, stärker kontrastiert, damit deutlicher und sinnfälliger als bis dahin üblich.
Durch solche prototypischen Vernetzungen entsteht eine neue Form musikalisch-romantischer Ironie innerhalb des Genres, die weit in die Zukunft der italienischen Oper hinausweist. Insofern ist „Margherita“ eine in jeder Hinsicht interessante Mosaik- und Übergangsform.
Detaillierteres kann man dazu in zwei fundierten Beiträgen des Bayreuther Musikwissenschaftlers Arnold Jacobshagen im Programmheft und im Opernjournal nachlesen – seit längerer Zeit endlich einmal wieder ein Originalbeitrag im Programmheft, der von der Oper selbst initiiert wurde. Dieses auf die Besucher der Oper Leipzig abgestimmte Vorgehen sollte keinesfalls mehr länger Ausnahme sein, sondern unhintergehbarer dramaturgischer Standard werden und bleiben, so wie auch die begleitende Meyerbeer-Ausstellung unbedingt zu begrüßen ist.
Die musikalische Umsetzung der konzertanten Aufführung von „Margherita“ brilliert vor allem durch drei solistische Leistungen: Marina Prudenskaja als sagenhaft stilsichere und ideal besetzte Herzogin von Lavarenne, Eun Yee You als stimmlich perfektionierte Königin Margherita und Robert Chafin als stattlich-kraftvoller Herzog von Lavarenne. Die Prudenskaja, wie man vielleicht bald sagen wird, ist eine einzigartige, künstlerisch hochintelligente Stimme, wie sie viele noch nie gehört haben, und die mit dem Wort Contraaltus nicht beschrieben werden kann. Die unermessliche Tiefe, die dunkle Tönung ihres Timbre, der unbegreiflich mühelose Tonansatz bei gleichzeitiger vollendeter, strahlender Klarheit der Obertöne, ihr phänomenaler Stimmumfang, den sie subtil und sensibel ausspielt, der unverwechselbare, sich in allen dynamischen Schattierungen treu bleibende Schmelz, das sehr klug ausgeformte sängerische Repertoire an Tonfärbungen, über das sie spielerisch verfügt, beweisen, dass hier eine Stimme zu hören ist, die nicht nur außergewöhnlich begabt und hervorragend trainiert ist, sondern die mit autonomer, feinsinniger künstlerischer Gestaltungsfähigkeit und mit für sich stehender Leuchtkraft, innerer Stärke und ästhetischem Feingefühl denkend eine Interpretation herausarbeitet. Prudenskaja ist nicht Isaura und noch weniger sie selbst, wenn sie singt, sondern stimmige musikalische Symmetrie schlechthin. Die Intendanz täte ein gutes Werk für das Haus und das Publikum, gelänge es ihr, Frau Prudenskaja wieder nach Leipzig zu komplimentieren; eine Carmen von ihr würde sicher Epoche machen. Eun Yee Yous Kantilenen stehen dem in ihrer Natürlichkeit in nichts nach – obwohl ihre Stimme nur an diesem Abend hier und da etwas unausgeglichen wirkt -, aber es ist ein zwar ebenso faszinierender, aber hörbarer Perfektionismus in ihrer Interpretation und nicht immer und durchgängig beseelte innere künstlerische Natur. Die halsbrecherischen Tonsprünge, die sie tapfer und wunderbar meistert, die Kraft und den Nachdruck, um den sie sich bemüht, die Verbindung von geschmeidiger Kantabilität mit Reinheit und Klarheit des Ausdrucks in den Koloraturen sind auch an diesem Abend so, wie es die Leipziger an ihr lieben gelernt haben, obwohl ihr doch eher die Rolle der Amina in der „Sonnambula“ als der Margherita auf den Leib geschneidert zu sein scheint.
Robert Chafin schlägt sich tapfer durch die Koloraturen und besticht durch einen stimmgewaltigen, furiosen und kraftvoll strömenden Tenor. Der Finne Hermann Wallén überzeugt durch lippenakrobatisches Parlando mit exakter Artikulation. Trotz gesundheitlicher Probleme sang Tuomas Pursio einen souveränen und natürlichen General Carlo Belmonte. Auch Felipe Bou als Herzog von Glocester wird dieser Souveränität gerecht. Viel erfreuliches auch im aufmerksam-stilsicheren Opernchor, der in der Einstudierung von Stefan Bilz durch feine Abtönungen, durch beachtlich klar herausgearbeitete Homogenität innerhalb der einzelnen Stimmengruppen, durch besonders majestätische Fülle im Forte und im Evviva-Chor für sich einnahm.
Frank Beermann, der zum ersten Mal nach der um die rekonstruierten Rezitativ-Teile erweiterten historisch-kritischen Ausgabe dirigierte, führt alle Fäden mit gewohnter Akkuratesse zusammen. Das Gewandhausorchester folgte ihm willig und so entstand ein stimmiges Ineinanderwirken des bunten, schillernden Orchesterparts mit den sängerischen Teilen, ohne dass das Orchester die Sänger je überstrahlt hätte. Auch manches akrobatische Accelerando wird souverän und diszipliniert bewältigt, wie es sich für dieses Orchester schickt. Insgesamt fiel auf, mit welcher Sensibilität für das Genre Beermann arbeitet, die Sänger beruhigend auf Händen trägt, ihre individuelle Gestaltung respektiert, wie er die dynamisch und rhythmisch höchst schwierigen, mehrstimmigen Passagen der Solisten gezielt ineinander führt und mit dem Orchester exakt verkoppelt; auch den Chor leitete er mit Prägnanz an. Die Orchesterstimmen sind unter seiner Stabführung in heller, manchmal beglückender Reinheit hervorgetreten, die unbenommen die Überzeugung nährt: Belcanto in dieser Besetzung ist in Leipzig weiter auf Erfolgskurs. Das nächste Mal wieder als Musiktheater, damit sich das Chaillysche Motto bewahrheiten kann: Langsam schneller gehen.
Giacomo Meyerbeer: Margherita d’Anjou
Inszenierung: Katja Czellnik
Musikalische Leitung: Frank Beermann
Gewandhausorchester
Konzertante Aufführung am 27. Mai 2005, Oper Leipzig
Bild: Andreas Birkigt
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