„Für Uwe Scholz” – Pothume Würdigung des Leipziger Ballettdirektors (Ingo Rekatzky)

„Für Uwe Scholz“ – Hommage der Oper Leipzig an ihren verstorbenen Ballettdirektor

Choreographie, Bühne und Kostüme: Uwe Scholz
Musikalische Leitung: Myron Romanul
Leipziger Ballett und Gastsolisten
Gewandhausorchester
18. Juni 2005
Oper Leipzig

Eigentlich sollte es in dieser Saison an der Leipziger Oper keine Premiere eines Ballettabends von Uwe Scholz geben, da dieser im Sommer 2004 bekannt gegeben hatte, ein Sabbatjahr einlegen zu wollen. Doch nach seinem Tod am 21. November 2004 wurde der ursprünglich geplante Abend mit Mario Schröders „The Wall“ kurzerhand abgesagt, um den verstorbenen Ballettdirektor mit einem repräsentativen Ausschnitt aus seinen Werken in der vom Leipziger Ballett und ehemaligen Weggefährten dargebotene Gala „Für Uwe Scholz“, die am 18. Juni 2005 in der nahezu ausverkauften Leipziger Oper ihre Premiere gefeiert hat, posthum die Ehre zu erweisen.

Im ersten Teil steht Ludwig van Beethovens 1813 uraufgeführte Symphonie Nr. 7 in A-Dur im Mittelpunkt, die von Richard Wagner in seiner 1850 erschienenen und im Programmheft leider in keiner Weise erwähnten Schrift „Das Kunstwerk der Zukunft“ als Apotheose des Tanzes bezeichnet wurde. Unter diesem Eindruck steht auch die Choreographie „Siebente Symphonie“, die vollständig dargeboten gleich zu Beginn der Gala am Deutlichsten Scholz‘ neoklassizistische Handschrift und seine immense Begabung, die musikalische Vorlage in tänzerische Bewegung zu transformieren, teilweise gar zu erheben, aufzeigt. Konsequent hat er darauf verzichtet, auf der Grundlage der sinfonischen Musik eine Handlung zu vermitteln. Stattdessen bietet Scholz Tanz pur, der mit Beethovens Siebter zu einer Einheit verschmolzen ist. Dominiert wird die Choreographie durch die Scholz zum Markenzeichen gewordenen organischen, teils aber auch geometrischen und einem steten Wandel unterworfenen Anordnungen des Corps de Ballet, aus denen – je nach musikalischem Duktus – die solistischen Einlagen entwachsen.

Ist der Kopfsatz eher gediegen choreographiert, so warten vor allem die beiden Mittelsätze mit berückenden Momenten auf. Im mit „Allegretto“ überschriebenen 2. Satz zelebrieren Beatriz de Almeida, Weggefährtin aus Scholz‘ Stuttgarter und Züricher Zeit, und Christoph Böhm vor dem nur langsam aus der Starre zum Leben erweckendem Ensemble einen Trauer suggerierenden, dabei aber stets würdevollen Pas de deux in schwebender Eleganz. Trotz mehrfacher Versuche verweigert die Beethovensche Musik hier noch eine glückende Vereinigung des Paares, zieht es den weiblichen Part immer wieder in verschiedene Richtungen, von Scholz eindrucksvoll auf zwei Ebenen mit den Solisten im Vorder- und der Gruppe im Hintergrund umgesetzt. Im dritten Satz werden entsprechend der Bezeichnung „Presto – Assai meno presto“ die beiden Themen kontrastiv gegenübergestellt. So tanzen während des ersten, scherzoartigen Themas Giovanni di Palma und später Yuichiro Yokozeki, im Finale dann beide zusammen, nahezu heiter ein befreites, den ganzen Bühnenraum einbeziehendes Solo, wohingegen im weihevolleren zweiten Thema Elena Tumanova und Sven Köhler einen elegischen Pas de deux geben und sich in der Tuttivariation das Ensemble im Halbkreis um einen Lichtkegel zu einer Art Gralsgemeinschaft versammelt, die sich allmählich wieder auflöst. Der mit „Allegro con brio“ überschriebene und von Peter Tschaikowski nicht zu unrecht als wahres Tonbacchanal bezeichnete Finalsatz beginnt doch recht gemäßigt, auch wenn Yuichioro Yokozeki und Giovanni di Palma, die schlussendlich mit dem stärksten Applaus bedacht werden, den Brückenschlag zum Scherzo des dritten Satzes ziehen, indem sie in ihrer Ausgelassenheit in das Duett zwischen Oksana Kulchytska und Rémy Fichet nahezu hineinplatzen. Eine bacchantische Exzessivität kommt aber nicht auf, da Scholz‘ Choreographie hier zu sehr an den neoklassischen Formenkanon gebunden bleibt. Gemäß der Apotheose des Tanzes formiert sich im Finale das Corps de Ballet zu einem Kreis um die Solistin Oksana Kulchytska und erhebt diese einem göttlichen Wesen gleich gen Bühnenhimmel, um sich danach wieder streng geordnet in vier Reihen zu finden, die diesen Satz zuvor schon strukturiert haben. Das Publikum erwartet nichts Anderes und entlässt das Leipziger Ballett mit frenetischem Jubel in die erste Pause, wie es für hiesige Verhältnisse eher ungewöhnlich ist.

Der zweite Teil der Hommage steht ganz im Zeichen der Solisten und bietet neben ehemaligen Weggefährten Uwe Scholz‘ aus Stuttgarter und Züricher Zeit wie Mark McClain und Vladimir Derevianko ein Wiedersehen mit ehemaligen Publikumslieblingen des Leipziger Balletts in acht Choreographien zu – allerdings nur vom Tonband dargebotener – stilistisch höchst unterschiedlicher Musik zwischen Bach und Zimmermann.
Anfangs setzen Kiyoko Kimura und Christoph Böhm in ihrem Pas de deux das „Andantino“ des zweiten Satzes aus Mozarts Jeunehomme-Klavierkonzert in Es-Dur in zum Teil minimale Körpersprache um, transformiert Kiyoko Kimura grandios die Virtuosität des Pianosolos in kleinste, kaum wahrnehmbare Bewegung und lässt sich zeitgleich mit dem wiedereinsetzenden Orchester vertrauensvoll zur finalen Vereinigung in die Arme von Christoph Böhm fallen.
In der Choreographie zu „Pax questosa“, einer Komposition des ehemaligen Leipziger Opernintendanten Uwe Zimmermann, thematisierte Uwe Scholz die allgemeine Tendenz des Resignierens vor innen- wie außenpolitischen Entwicklungen zu Beginn der 90er Jahre. Der Pas de trois zwischen Sibylle Naundorf, bis zur letzten Spielzeit Erste Solistin des Leipziger Balletts, Sven Köhler und Rémy Fichet zur Arie „Es wird ein großer Stern in meinen Schoß fallen“ beginnt folglich erstarrt im Hintergrund, aus der sich die von beiden Partnern getragene Solistin in extreme Körpersituationen begibt. Wie Sibylle Naundorf in höchster Anspannung eine resignierende Haltung vermittelt, in der Embryonallage keine Zuflucht findet und darauf funktionierende, aber emotionslose Bewegungen verkörpert, um letztendlich zum mechanischen Pendel auf den Beinen der Herren zu werden, bewegt tief, lässt aber dennoch viel Freiraum für eine individuelle Deutung und wird vom Publikum entsprechend kräftig akklamiert.

Die nachfolgenden Choreographien zu Bachs Arie „Erfreue dich, Seele, erfreue dich, Herze“, Schumanns „In der Nacht“ und Mendelssohn-Bartholdys „Oktett“ boten technisch perfekten Tanz, warteten aber mit keinen großen Überraschungen auf. Auch der Pas de deux zum Duett „Von deiner Güt, oh Herr und Gott“ aus Haydns „Schöpfung“ in einer extrem antiquiert wirkenden Einspielung Karajans vermochte losgelöst vom gesamten Werk nicht seine Potenz entfalten. Für einige heitere Momente sorgte Mark McClains Solo zu Stravinskys „Piano Rag Music + Tango“, live auf der Bühne dargeboten von Myron Romanul am Flügel. McClain zelebriert die große Show, nicht ohne Selbstironie, und kokettiert augenzwinkernd mit dem Publikum.
Den Schlusspunkt des Mittelteils bildet „Fragmente: Winterreise“ zu ausgewählten Liedern aus dem gleichnamigen Zyklus von Franz Schubert, die Scholz im November 2003 für Vladimir Derevianko, Ballettdirektor der Semperoper choreographiert hat. Derevianko betritt die Bühne, legt Noten auf das Pult des Sängers, klappt die Tastatur des verwaisten Flügels auf, versetzt sich in die Rolle des lyrischen Subjekts und verkörpert als gebrochenes Individuum ziellos dessen resignierten Rückblick auf die verlorene Idylle, nur zwischenzeitlich für einen Moment wieder zu neuem Leben erblühend. Erst in der „Krähe“, die der Wanderer um „Treue bis zum Grab“ anfleht, kommt in Derviankos Darstellung eine leicht erhabene Haltung zurück, die im abschließenden „Wegweiser“ zu den Versen „Eine Straße muss ich gehen,/ Die noch keiner ging zurück“ sich in eine ruhig gelassene, der Erlösung entgegensehnende Grundstimmung wandelt. Das Publikum zeigt sich in Gedanken an den verstorbenen Uwe Scholz von dieser Choreographie ergriffen und reagiert erst zögerlich mit sich steigerndem, schließlich kräftigem Applaus.

Furios abgeschlossen wird die Hommage im dritten Teil mit Ausschnitten aus dem Ballettabend „Amerika“. In Charles Ives‘ „The Unanswered Question“ bewegt sich Scholz‘ Choreographie an der Schwelle zum modernen Ausdruckstanz, wird Sybille Naundorf von Christoph Böhm zu den Fragen aufwerfenden Bläsermotiven in die Höhe gehoben und wendet sich mit schmerzerfülltem Gesicht, die Arme weit ausstreckend an das Publikum, um letztendlich auf dem Partner schwebend und ins Nichts greifend entseelt in die Unterbühne herabgefahren zu werden. Nahtlos schließt sich hieran Philip Glass‘ stark vom Schlagzeugmotiv strukturierte Komposition „The Canyon“ an, in welchem das um Studenten der Ballettschule ergänzte Corps de Ballet erneut sein Können unter Beweis stellen kann und technisch perfekt in stark rhythmisierten, geometrischen Formationen einen geschlossen Massenkörper auf die Bühne stellt, denen die Soli von Louise Chalwell und Giovanni di Palma gegenüberstehen.

Aus dem kaum nach Ende der Choreographie ausbrechenden, mit lautstarkem Jubel durchsetzten Applaus wird ersichtlich, dass sich das Leipziger Opern- und Ballettpublikum nicht prinzipiell der Aufführung von zeitgenössischer Musik entzieht, zumal, wenn sie auf dem Niveau gespielt wird, welches das Gewandhausorchester im dritten Teil des Abends unter Myron Romanul erreicht. Zu Beginn der Gala wird Beethovens „Siebente Symphonie“ noch ohne besondere Vorkommnisse dargeboten. Dass man nicht auf der anderen Seite des Augustusplatzes verweilt, wird nicht nur durch den Applaus zwischen den einzelnen Sätzen, sondern auch anhand des wenig transparenten Klangs deutlich. In „The Unsanswered Question“ hingegen liefern die Streicher ein zartes, fast schwebendes Pianissimo, aus dem kontrastiv die sehr zuverlässigen Blechbläser mit ihren Motiven hervorgehen, in „The Canyon“ hingegen pulsiert das Orchester nahezu, zeigt sich die Schlagwerkgruppe von ihrer besten Seite.

Der Jubel für diesen im Programmheft euphemistisch mit zwei Stunden und 15 Minuten angegebenen, tatsächlich aber gut 70 Minuten länger währenden Abend ist unermesslich: Solisten und Ensemble werden vom Publikum mit stehenden Ovationen gefeiert und ehren selbst den verstorbenen Uwe Scholz mit einem Bouquet gelber Rosen in der Bühnenmitte. Dass das Leipziger Ballett sein Niveau auch in Zeiten ohne Direktor gehalten hat, ist vorrangig ein Verdienst der Ballettmeister, denen entsprechend mit respektvollem Applaus gedankt wird.

Pünktlich vor der Premiere der Gala hat die Oper Leipzig bekannt gegeben, dass Paul Chalmer zu Beginn der Spielzeit 2005/2006 neuer Direktor des Leipziger Balletts wird und das Erbe Uwe Scholz‘ bewahren soll. Wünschenswert ist dies allemal, genauso aber eine Öffnung des Leipziger Balletts für andere choreographischen Stile und Handschriften.

Weitere Vorstellungen, in denen die Partien der Gäste aber zum Teil von Solisten des Hauses übernommen werden, sind am 25., 26. und 30. Juni sowie am 2. Juli 2005.

(Ingo Rekatzky)

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.