Saisonfinale furioso in Dresden mit Puccinis „Turandot” (Ingo Rekatzky)

Saisonabschluss in der Dresdner Semperoper mit Puccinis unvollendeter „Turandot“

Musikalische Leitung:Fabio Luisi
Regie:Andreas Homoki
Bühnenbild:Wolfgang Gussmann
Kostüme:Wolfgang Gussmann, Frauke Schernau
Video:fettFilm
Chor:Matthias Brauer

Sächsische Staatskapelle Dresden
Chor der Sächsischen Staatsoper Dresden


Viele Opern bergen die Gefahr in sich, wegen der räumlichen und zeitlichen Ferne ihres Librettos in einer folkloristisch-dekorativen Inszenierung realisiert zu werden, weshalb eine zeitgemäße Interpretation häufig auf der Strecke bleibt. Giacomo Puccinis tragikomische „Turandot“ gehört zweifelsohne in diese Kategorie, doch nicht in Dresden: Während andernorts in Fußballstadien mit demselben Stück gerade das größte Opernereignis aller Zeiten gefeiert wird, was sich vor allem auf die räumliche Dimension der Bühne, weniger auf die musikalische Qualität und schon gar nicht auf eine innovative Deutung des Turandot-Mythos beziehen dürfte, beging die Semperoper am 10. Juli 2005 ihren Saisonabschluss mit Andreas Homokis unkonventioneller „Turandot“-Inszenierung, die unter der musikalischen Leitung von Fabio Luisi zu Beginn dieser Spielzeit ihre Premiere erlebt hatte.

Allein die in Dresden aufgeführte Fassung überrascht. Bekanntlich hat Puccini bei seinem Tod Ende 1924 nur wenige Skizzen zum dritten Akt hinterlassen, aus denen Franco Alfano das heute übliche, musikdramaturgisch aber problematische Finale komponiert hat. Dirigent und Regisseur der Dresdner Neuinszenierung haben sich aber gegen diese Rekonstruktion entschieden und lassen ihre „Turandot“ dort enden, wo Puccini mit seiner Komposition nicht mehr weiter wusste, nämlich mit Li?s Freitod.
Der Überraschungen nicht genug, geht Homoki mit seinen Bühnen- und Kostümbildnern Wolfgang Gussmann und Frauke Schernau konsequent den Weg vom monumentalen Ausstattungsstück hin zur psychische Vorgänge bloßlegenden Kammeroper. Der Regisseur verweigert in seiner Inszenierung jegliche Assoziationen mit dem mythischen China und wirft stattdessen die Frage auf, wie die märchenhafte Handlung um die schöne Turandot, deren Freier bisher allesamt an den drei Fragen der Prinzessin scheiterten und dafür mit dem Leben zahlen mussten, heutzutage vermittelt würde: Die Parallele zwischen Märchen und den modernen Medien, in denen vornehmlich über das Fernsehen Dutzendmenschen zu Helden und Prinzessinnen ikonisiert werden, liegt für Homoki auf der Hand. Deshalb verlegt er seine „Turandot“ aus dem fernen chinesischen Kaiserreich in einen autoritären, teils an George Orwell erinnernden Staat der Gegenwart, in dem das alltägliche Leben ständig mit der Medienrealität konfrontiert und von ihr – durch die heranrollende Leinwand etwas brachial symbolisiert – gar bedroht wird.

Folglich läuft zu Beginn der Chor (spielerisch und in der Einstudierung von Matthias Brauer vor allem musikalisch sehr überzeugend) als unterdrücktes Volk von Peking aufgeregt durch den schlicht-blauen, von einem überdimensionalen Fragezeichen dominierten Bühnenraum. Die Gewalt, vor der die zwar individuell gekleidete, durch das einheitliche Blau der zeitgenössischen Kostüme jedoch uniformierte Masse zurückschreckt, ist aber nicht leibhaftig präsent. Vielmehr verkündet der Mandarin (Jürgen Commichau) das Todesurteil gegenüber dem an Turandots drei Fragen gescheiterten Prinzen von Persien nur über einen kleinen Fernseher auf der Vorderbühne, den später auch der chinesische Kaiser Altoum (Tom Martinsen mit solidem, wenn auch durch die Übertragung stark verzerrten Tenor) nutzt, um sich an seine Tochter zu wenden.
Innerhalb der medialen, vom Volk sensationsgierig verfolgten Hetzjagd, welcher sich der verurteilte Prinz nun durch ein Kamerateam ausgesetzt sieht, droht das Wiedersehen zwischen Calaf und seinem blinden Vater Timur (kraftvoll mit sonorem Bass: Johann Tilli), dem entthronten Tartarenkönig, fast unterzugehen. Dennoch wird durch die musikalische und szenische Kontrastierung bereits hier deutlich, wem in dieser Oper sowohl Puccinis als auch Homokis Sympathie gilt: Der Sklavin Li?, die aus unerwiderter Liebe zu Calaf dessen greisen Vater begleitet und sich als einzige den medialen Verführungen wie Verfolgungen entzieht. Als Gegengewicht zu der empfindsamen Li? bitten alsbald die Hofbeamten Ping, Pang und Pong als schmierige Showmaster mit Elvis-Tolle den Todeskandidaten scheinheilig auf ihren Talk-Sessel, um ihn ein letztes Mal die Schönheit Turandots sehen zu lassen, bevor er der Projektion ihres Auges ins Nichts folgt.
Hier erweist sich Homokis Inszenierung als besonders schlüssig: Laut Libretto sieht Calaf während der Enthauptung des Prinzen erstmals Turandot und verfällt augenblicklich ihrer zauberhaften Schönheit. Der Regisseur verzichtet allerdings auf einen leibhaftigen Auftritt der sagenumwobenen Prinzessin und präsentiert sie – stilisiert zu einem geheimnisvollen Todesengel – der versammelten Masse nur in einer mehrfach wiederholten Videosequenz. An diese Diskrepanz zwischen Mythos und Realität knüpft Homoki im dritten Bild an und vollzieht hier am konsequentesten den Schritt zum Kammerspiel: Die Auftrittsarie, in der sie die kryptische Motivation ihres Handelns darlegt, singt Turandot nicht vor dem versammelten Volk und dem werbenden Calaf, sondern allein auf leerer Bühne. Bekleidet mit einem weißen, mitunter sehr raschelnden Paillettenkleid entfaltet Adrienne Dugger als Turandot schauspielerisch überzeugend die Diskrepanz zwischen der öffentlichen und der privaten Turandot und legt somit das Berufen auf die eigene Tugend als eine soziale Maske der Diva bloß. Scheinbar gestärkt aus der Arie hervorgehend, bittet sie nun – ein wenig ironisch das Fernsehformat Quizshow zitierend – den ihr unbekannten Calaf für die drei Fragen auf den Sessel, umgarnt ihn anfangs, um dann doch zusehends die Fassung zu verlieren, da erstmals ein Freier die Antworten auf ihre drei Rätsel weiß: Hoffnung, Liebe, Turandot.
Calafs Angebot, er wolle sich Turandots Henkern ausliefern, so jene denn bis Sonnenaufgang seinen Namen herausfinden würde, gerät adäquat der bisherigen Inszenierung ebenfalls zum Medienevent: Die Verlautbarung, niemand möge in dieser Nacht schlafen, wird in italienischer, deutscher und letztendlich auch chinesischer Laufschrift auf die Leinwand projiziert. Ping, Pang, und Pong versuchen – begleitet durch einschlägige Werbespots privater Sender – mittels des Versprechens fleischlicher Liebe dem Prinzen das Geheimnis seines Namens zu entlocken. Und Li?, die vorgibt, als Einzige um Calafs Identität zu wissen, wird vom Kamerateam während ihrer großen Arie zwar bedrängt, zeitgleich aber auch zur Ikone der wahren Liebenden stilisiert, für deren tatsächliches Schicksal sich außerhalb der Medienrealität niemand interessiert, insbesondere nicht Calaf.
Dieser Medialisierung entsprechend wahrt Li? ihr Geheimnis im Opfertod: Bedrängt vom aufgebrachten Volk und den nun sensationsgierigen Entertainern Ping, Pang und Pong entzieht sie sich der medialen Verfolgung, indem sie mit einer Fernbedienung nicht nur dem überdimensionalen Bild ihrer selbst, sondern auch dem eigenen Leben ein Ende setzt. Nach einem kurzen Moment der Überraschung weicht das Volk erschrocken vor der nun unverzerrten Realität zurück, sodass Turandot und Calaf verstört und jeder für sich zurückbleiben, nicht glauben wollend, was sich ihnen ohne mediale Inszenierung unmittelbar vor ihren Augen abgespielt hat. Der Vorhang fällt langsam und alles scheint gesagt, weshalb es in dieser Inszenierung sehr plausibel ist, an dieser Stelle zu enden: Dass eine Vereinigung mit Calaf trotz des vermeintlich versöhnlichen Finales keinesfalls möglich wäre, geht nicht nur aus Turandots letzten Blick hervor.

Auch wenn Andreas Homoki nicht alle Aspekte des Werkes berücksichtigt und einige Gags recht aufgesetzt wirken, so bietet seine Inszenierung jedoch ein psychologisch überzeugendes, sehr kurzweiliges Kammerspiel jenseits einer erstarrten Aufführungstradition und lässt den Zuschauern genügend Freiräume zu eigener Assoziation.
Dem Bühnengeschehen entsprechend erfährt „Turandot“ aber auch von der bestens disponierten Staatskapelle unter Fabio Luisi eine Interpretation, die sich durch ihren differenzierten Spannungsaufbau von der monumentalen Folkloristik zahlreicher Puccini-Aufführungen deutlich abhebt. Luisi entlockt seinen Musikern präzise einen transparenten Klang, setzt keineswegs auf den oberflächlichen Effekt und scheut im Dienste der musikalischen Dramaturgie nicht vor langsameren Tempi, sodass selbst kleinste Motive deutlich zu vernehmen sind.
Unter den Solisten treten die beiden Antipodinnen Turandot und Li? hervor: Neben dem beachtlichen Porträt der Mediendiva Turandot gelingt Adrienne Dugger vor allem die Gestaltung ihres Gesangparts. Souverän kraftvoll und nahezu ohne Tremolo in den hohen dramatischen Bereich vordringend, überzeugt sie ebenso mit angenehm warmen Timbre in den Mittellagen ihrer Partie.
Anette Dasch gestaltet mit zartem, lyrischen Sopran die Li? als zunehmend selbstbewusste junge Frau, deren Schicksal es ist, dass ihr in der Aufopferung für Timur und Calaf eigentlich kein eigenes zukommt. Vor allem durch Li?s letzte Arie kann sie sich der Gunst des Publikums versichern.
Hierneben hat es Vladimir Kuzmenko in der anspruchsvollen Partie des Calaf schwer. Seiner bedingungslosen Liebe zu Turandot mit weit ausholenden, stereotypen Armbewegungen Ausdruck verleihend, gewinnt er nach anfänglichen Intonationsproblemen in der Höhe ein wenig an Souveränität. Die Verlautbarung „Nessun dorma“ gestaltet er allerdings mit unmodulierter, im Kontrast zum transzendenten Klang des Orchesters stehender Dynamik, sodass man sich diesem Befehl nur schwerlich widersetzen könnte.
Durch musikalisches wie darstellerisches Buffotalent erweisen sich Jochen Kupfer, Gerald Hupach und Oliver Ringelhahn in den Rollen Ping, Pang und Pong als Idealbesetzung, die neben der tragischen Handlung nicht nur gekonnt komisch-groteske Akzente setzen, sondern auch dem Publikum den Zerrspiegel der eigenen Verflachung vor Augen halten. Vor allem ihre Karaoke-Show, in der sie sich nach einer privaten Idylle sehnen, gerät zu einem parodistischen Höhepunkt der Inszenierung.

Das Publikum dankt den Beteiligten nach eindreiviertel Stunden ereignisreichem Musiktheater mit kräftigem, wenn auch verhältnismäßig kurzem Applaus.
Weitere Vorstellungen sind im November 2005 sowie im April und Mai 2006 in weitestgehend neuer Besetzung angesetzt. Freunden zeitgenössischer, nicht nur auf das Nacherzählen der Handlung beschränkter Operninszenierungen sei eine Fahrt nach Dresden wärmstens ans Herz gelegt.


(Ingo Rekatzky)

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