All that Jazz…and Coffee Shops

Hochkonzentrierte Jazzdosis: 30. North Sea Jazz Festival in Den Haag

Sie singt den endlosen Liebesschwur, als schreie sie Freud und Leid aus ihrer Seele heraus. Zu den großen Stimmen des Jazz gehört Dianne Reeves schon lange; mit diesem ekstatischen Auftritt zeigt die Diva mit dem atemberaubenden Stimmenvolumen, dass sie zweifelsohne auf einem Höhepunkt ihrer Karriere angelangt ist.

Es sind Momente wie diese, die vom 30. North Sea Jazz Festival (NSJF) in Den Haag in Erinnerung bleiben. Ab 2006 wird das „biggest indoor jazz festival in the world“ in Rotterdam stattfinden, weil ein Großteil des Den Haager Kongresszentrums dem Abriss anheim fällt. Reichen wird es nicht, dass die neuen Säle die alten Namen erhalten. Damit das Festival seinen Reiz behält, muss es wie auch in diesem Jahr all seine Vielseitigkeit und seinen ganz spezifischem Charme unter Beweis stellen.

In der großen Halle sorgten der funkige Maceo Parker ebenso wie Al Green, Solomon Burke, George Duke oder Youngster Jamie Cullum für tanzende Massen. Auf vielen anderen der 15 Bühnen waren die großen Stars aber auch aus nächster Nähe in intimer Atmosphäre zu erleben – so beispielsweise die Gitarristen Biréli Lagr?ne, Charlie Hunter, John Scofield oder Jim Hall. Oder auch die McCoy Tyner All Stars, sofern man sich im Massenandrang der 70.000 Festivalbesucher früh genug ein Plätzchen auf dem Fußboden sichern konnte – ganz wie es dem Flair des kleinen Jan Steen-Saals entspricht. Mit den Tyner-typischen kraftvollen Akkorden vermochte der Pianist seine Saxophonisten Gary Bartz und „Trane“-Sohn Ravi Coltrane zu temporeichen Höchstleistungen anzutreiben. Charnett Moffett zupfte seinen elektrisch verstärkten Bass gar genauso wuchtig wie er ihn strich, mit dem Bogen schlug oder beklopfte. Und doch drohte bei aller Virtuosität häufig genug der Zusammenhalt zugunsten einer Solo-Nummernschau auf der Strecke zu bleiben. Ein größeres Zusammenspiel war dem New York Trio des Akkordeonisten Richard Galliano anzumerken, der wie kein anderer die Revolution der französischen Musette verkörpert, oder dem Stefano di Battista Quartett. Dem sympathischen italienischen Alt- und Sopransaxophonisten mit dem klaren und schnellen Spiel blieb die Puste weg, als das begeisterte Publikum durch nur wenige Takte inspiriert die „Moritat von Mecky Messer“ mitpfiff und di Battista zu überraschenden Improvisationen anheizte.

Gereifter Brad Mehldau

Auch Brad Mehldau schien überwältigt von seinem Publikum, das ihn trotz sechsstündiger Verspätung mit frenetischem Jubel empfing. Der junge Pianist verschob sein Konzert mit Gitarrist Kurt Rosenwinkel auf ein Uhr nachts, um zuvor noch seinen heiß ersehnten Solo-Auftritt abzulegen. Darin präsentierte er eigene Kompositionen aus seinem aktuellen Album „Live in Tokyo“, aber auch ältere, die er heute jedoch alle im härteren „Tokyo“-Stil spielt. Mehldau, der in Den Haag noch vor wenigen Jahren völlig verschüchtert sein erstes Solo-Album „Elegiac Cycle“ vorstellte und damit Einblick in all seine Zerbrechlichkeit bot, tritt nun als selbstsicherer Star auf, der trotz vieler Experimente in verschiedensten Formationen ein großes Maß jener früheren Intensität bewahren konnte.

Wenn man auch nur einen Bruchteil der knapp 200 Konzerte besuchen konnte, so war es doch tröstlich, dass selbst die ganz großen Stars parallel zu hören waren, und nicht alles in nur einen Saal strömte. So konkurrierte die junge, umworbene Sängerin Lizz Wright mit dem Saxophonisten Archie Shepp und dem Pianisten Michael Camilo. Jean ‚Toots‘ Thielemans spielte parallel zu Billy Cobham, Bobby McFerrin in einer aufregend afrikanisch-rhythmischen Formation mit dem Randy Weston Quintett (und dem wie vom Teufel gerittenen Bassisten Alex Blake) parallel zum Joe Zawinul Syndicate und die David Sanborn Group oder Pink Martini parallel zu Cassandra Wilson oder Ibrahim Ferrer.

Dave Holland – „Artist in Residence“

Bei solch einem hochkonzentrierten Programm kommt es viel häufiger als bei anderen Festivals dazu, dass man als einer der 1200 teilnehmenden Musiker auf alte Freunde trifft. Dies jedenfalls nannte Posaunist Robin Eubanks in einem Gespräch am Rande seines Konzerts mit der Dave Holland Big Band als eine der Besonderheiten des NSJF. Und ferner: die allgegenwärtige „party-atmosphere ? and the coffee shops“. Der Auftritt der Big Band auf der Dachterrasse war ein weiteres Highlight des Festivals. Der 1946 geborene Bassist, Komponist und Bandleader Dave Holland, der in diesem Jahr als „Artist in Residence“ omnipräsenter Gast des Festivals war, zeigte mit seiner 13-köpfigen Formation, dass er noch immer zur aufregendsten Fortentwicklung des modernen Jazz beiträgt. Sich stets der Zukunft zuwenden ohne die Traditionen zu vergessen, das nannte Holland in einem sehr privaten Vortrag im kleinen, aber öffentlichen Kreise als eine der Grundvoraussetzungen seiner Musik. Entsprechend gab er als eines seiner Vorbilder natürlich Miles Davis an, der ihn 1968 in seine Band holte, um so legendäre Platten wie „In a Silent Way“ oder „Bitches Brew“ aufzunehmen; daneben Coltrane, Mingus, Roach und für die Eigenschaft als Big Band-Leader unerlässlich: Duke Ellington. Genau wie dieser setze Holland auf die Basis der „Community“, auf das absolute Zusammenspiel und das gemeinsame Voranschreiten aller Bandmitglieder. Vor allem seine Musik profitiert davon, aber auch die zahlreichen jungen Musiker seiner Big Band. Das Gegenteil zu dieser „Community“ präsentierte Holland am Abend zuvor in einem anderen, eher mäßig überzeugenden Konzert mit den Superstars Herbie Hancock, Jack DeJohnette und Chris Potter (der ansonsten ständiges Mitglied bei Holland ist). Der ganz spezielle Holland-Sound und all die Arbeit, die in seinen langjährigen Projekten steckt, sind eben nicht ohne weiteres durch große Namen zu ersetzen. Experimenteller dürfte der Duo-Auftritt mit dem indischen Perkussionisten Trilok Gurtu gewesen sein. Seit kurzer Zeit ist das neue Big Band-Album „Overtime“ erhältlich; in Leipzig wird Dave Holland mit seinem Quintett im Rahmen der Jazztage im kommenden Oktober auftreten.

Während Holland auch in Rotterdam wieder zu hören sein dürfte, war es für einen Anderen der womöglich letzte Auftritt in den Niederlanden: Oscar Peterson. Der 1925 in Montréal geborene Pianist durchwanderte im Laufe seiner Karriere viele Jazz-Stile, ohne vielleicht je einen eigenen geschaffen zu haben (sofern man einen eigenen Klang nicht selbst schon als Stil bezeichnen könnte). Denn der Klang von Oscar Peterson ist stets vom Swing beseelt, ist virtuos, ist unverwechselbar. Und dieser ist auch heute noch zu hören, trotz eingeschränkter linker Hand durch seinen Schlaganfall vor zwölf Jahren. Im Quartett mit Ulf Wakenius an der Gitarre, David Young am Bass und Alvin Queen am Schlagzeug spielte Peterson nicht nur manch Schnelles, sondern vor allem scheinbar schwebende, doch zugleich unsagbar eindringliche Balladen wie „Love Ballade“ und für all die kürzlich verstorbenen Musikerfreunde „Requiem“. Möge er es halten wie er es selbst einmal ankündigte: „Ich spiele, bis ich vom Schemel falle.“ Und mögen solche Momente auch auf dem North Sea Jazz Festival in Rotterdam wiederkehren.

30. North Sea Jazz Festival

www.northseajazz.com
Fotos: © Matthias Duwe
1. Oscar Peterson
2. Dianne Reeves
3. Alex Blake
4. Dave Holland

8. – 10. Juli 2005, Netherlands Congress Center, Den Haag

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