Kleine Wunder auf der Bühne des Gedichts

Buchempfehlung: Neue Gedichte von Rosemarie Zens

„Wie alles auf die Bühne bringen?“ fragt das lyrische Ich zu Beginn eines Gedichts. Wie können heute überhaupt noch Gedichte geschrieben werden, mag sich die Leserin fragen, der durch eine Zugverspätung zwischen zwei Terminen die Zeit geschenkt wurde, endlich den Gedichtband „Oberhalb der Solarsegel“l in Ruhe zu lesen. Was ist das Wunder beim Schreiben: der besungene Ausschnitt Welt, der entstandene Text? Oder ist das eigentliche zeitgenössische Wunder, dass die Leserin mit dem vollen Terminkalender überhaupt Zeit findet, um den Schatz zu heben, den die Worte ihr darbieten, oder durch das Gedichtfenster, mal durch bunte Scheiben, mal durch klares Glas, einen Blick auf die Welt zu werfen?

Schau her, scheinen die Gedichte von Rosemarie Zens zu sagen, es ist alles schon da. Du musst nur genau schauen und genau beschreiben. Und genau dies gelingt der Lyrikerin. Es ist eine faszinierende Welt, die in klarer Sprache auf die Bühne des Gedichts gebracht wird. Bilderreich und doch reduziert, in lebendiger Rhythmik. Die erfahrene Schriftstellerin weiß selbstverständlich, dass sie nicht alles auf einmal auf die Bühne bringen kann. Und doch, das ist gleichermaßen Antrieb, Fluch und Geschenk der Gabe des Schreibens, entsteht der Text aus dem Wunsch, alles zu sagen. Ein Wort zieht das andere nach sich. Zu bewundern ist Zens‘ Kunst des Weglassens, die immer gerade genug zeigt, um noch den Wunsch, die ganze Welt zu erfassen, spüren zu lassen. Pars pro toto, in einem kleinen Text ein Teil der ganzen Welt. Wenn es das faustische Streben kennzeichnet, den einen Augenblick zu finden, zu dem es sich lohnen würde zu sagen „ach, bleibe doch“, so zeigt die Klugheit der Dichterin, dass jeder Augenblick der schönste sein kann für diejenige, die es versteht zu sehen und zu sagen.

Die Sprache der Texte ist gleichermaßen archaisch und modern. Sie zeigt sich Bildern wie der Leier des Apoll oder dem Kreuz des Südens durchaus gewachsen. Der im Klappentext versprochene Bogen von den Urmythen zur DNA gelingt. „Pan ist nicht tot“, ruft programmatisch ein Text. Besondere Bühnenpräsenz haben für mich Gedichte wie Ketzerin Magie, Am frühesten Morgen oder Fantasy Mix, dem auch das Eingangszitat entnommen ist. Doch auch jene Texte, die bewusst mit modernen Worthülsen spielen, die oft einer wissenschaftlichen Sprache entnommenen sind, haben ihren eigenen Reiz, sind ironisch, unterhaltsam, manchmal auch verzweifelt (Novalis revisited, Siliziumherz). Ich bewundere die Geduld der Autorin, sich auf diesen Aspekt der modernen Sprache kritisch einzulassen. In diesen Gedichten scheint die neuzeitliche Gefahr auf, dass wir von dem archimedischen Punkt außerhalb der Welt aus nun auch die Fähigkeit erworben haben, diese Welt und mit ihr unser Selbstverständnis aus den Angeln zu heben. Rosemarie Zens bannt diese Gefahr, indem ihre Sprache ins Innere der Welt vordringt, ohne deren Äußeres darüber zu vernachlässigen.

Rosemarie Zens: Oberhalb der Solarsegel
Scheune Verlag Dresden, 2005

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