Den Schwächsten eine Lobby geben

Filme im internationalen Wettbewerb des 48. DOK Leipzig

Wer sich drauf einlässt, kann eine wundersame Reise erleben, eintauchen in eine Welt, deren strenge Rituale eine Freiheit von ganz anderer Dimension offenbaren. 160 Minuten dauert Philip Grönings meisterhafte filmische Meditation „Die große Stille“ (Deutschland, 2005), die gänzlich ohne sachliche Erklärungen das Leben in einem Kloster erfahrbar macht. Ein Leben, abgeschlossen von der unsrigen Welt, des Archaischen, des Schweigens und des Betens. Gröning, der ein halbes Jahr lang mit den Mönchen im Karthäuserkloster bei Grenoble lebte, verlieh seinem Film die adäquate Form dieses Miterlebten: Minimale Kamerabewegungen und lange Einstellungen, die die gebirgige Landschaft, das Hell und Dunkel des Klosterinneren, die Mönche beim Beten und Arbeiten zeigen. Der leiseste Film des Festivals war einer seiner aufregendsten – sofern man sich einließ, Zeit neu zu verstehen. Ab dem 10. November ist er bereits im Kino zu sehen.

Preise aber gab es im Internationalen Wettbewerb für jene Dokumentarfilme, die den Schwächsten eine Lobby boten. Die Goldene Taube für einen Langfilm ging an „Before Flying Back To The Earth“ (2005), eine deutsch-litauische Koproduktion von Arunas Matelis über ein Kinderkrankenhaus für krebskranke Kinder. So schlicht der Film auch gemacht ist, die Kinder, die ihn tragen, erzählen eine bewegende Geschichte. Ihre Verspieltheit und ihr Lachen, ihr kühler Sachverstand im Umgang mit der Krankheit und ihre ungebrochene Hoffnung beeindrucken, obwohl der Tod – vorweggenommen durch die Schwarzweißfotografien – unmittelbar bevorsteht.

Die Silberne Langfilm-Taube ging an „The Giant Buddhas“ (Schweiz, 2005) von Christian Frei. Auf dem Weg, eine Geschichte über die von den Taliban gesprengten Buddha-Figuren in Afghanistan zu machen, verliert sich Frei (bewusst!) in vielen anderen Geschichten. Da ist die seit Generationen in ihrer Felshöhle lebende Familie, die nicht mehr dorthin zurück darf, weil die Felsen nun zum Weltkulturerbe erklärt wurden. Da ist der Archäologe, der in der Wüste unbeirrt nach einer weiteren Buddha-Figur gräbt, und da ist die afghanisch-stämmige Freundin aus Übersee, die sich ihr Leben lang vergebens danach sehnte, die nun gesprengten Buddhas einmal zu erleben. Der Film zeigt ihre unterschiedlichsten Vorstellungen vom Seienden und der Kultur. Und manchmal scheint er sich wirklich zu verlieren, würde Frei nicht fragen: „Wie sagte Buddha? Nichts bleibt, alles ändert.“

Religion und Glauben war auch das Thema im Goldene-Taube-Kurzfilm „For A Miracle“ (Polen 2004) von Jarek Sztandera über eine Pilgerreise mit Behinderten nach Lourdes. Wenn „Die große Stille“ eher einen neuen, unverstellten Zugang zum Glauben gewährt, stellt „For A Miracle“ vor allem ihr absurdes Korsett zur Schau: der Segen übers Mikrofon im rappelvollen Sonderzug und Blitz und Donner während der verregneten Open-Air-Messe. Würde er nicht in manchen Momenten auch nach den Sehnsüchten seiner Protagonisten fragen, um sich wenigstens einen Hauch darauf einzulassen, was sie innerlich antreibt, um all die Strapazen auf sich zu nehmen, dann müsste er sich den Vorwurf des Voyeurismus gefallen lassen.

Wuchtiger als alles andere ist Michael Glawoggers neuer Bilderreigen „Workingman’s Death“ (Österreich, Deutschland, 2005) – visuell verführerisch, manchmal aber auch erschlagend. In jedem Falle fragwürdig, ob seine Aussagen überhaupt Inhalte besitzen. Sein Thema in fünf Kapiteln: Arbeit im 21. Jahrhundert. Die Bilder: Grubenarbeiter in einem halben Meter hohen Schacht, 100-Kilo-schwere Körbe tragende Arbeiter am rauchigen Schwefelfelsen, Blut spritzendes Kälberschlachten in Nigeria und anderes Beeindruckendes, Schockierendes. Am Ende: eine irgendwie gewollte Verbindung zum Kohleabbau im Ruhrpott. Der Film gewann den Preis der Internationalen Filmkritik FIPRESCI.

Keine Preise, aber großen Publikumszuspruch erntete „Beneath The Stars“ (Schweden, 2004) von Titti Johnson und Helgi Felixson. Der farbenfrohe, von Musik und Aktionismus durchdrungene Film erzählt die zu Herzen gehende Geschichte der 17-jährigen Frieda, die auf den Straßen Südafrikas lebt, Drogen nimmt und über Nacht zum Star ihres Landes wird. Mit ihrer wundervollen Stimme und einem rührig-sentimentalen Popsong gewinnt sie eine Superstar-Show, stürzt aber in nur kürzester Zeit wieder ab. Das junge schwedische Filmemacherpaar besucht ihre großartige Protagonistin an vielen Morgen auf der Straße zusammen mit ihren befreundeten Schicksalsgefährten. Dabei gelingt es ihnen, die Kamera völlig vergessen zu machen und ein intimes Portrait zu entwerfen über Sehnsüchte und Liebe, Freundschaft und das harte Leben ohne Obdach und Halt. Der Film wäre ein ehrliches, aufrichtiges dokumentarisches Werk voller Emotionen, wenn er nicht urplötzlich eine bemerkenswerte Wendung nehmen würde. Die Dokumentaristen greifen in ihre Geschichte ein. Sie fühlen sich verantwortlich für Frieda und entreißen sie der Straße, nehmen sie mit nach Schweden und wollen sie auf die richtige Bahn bringen. Das gibt dem Film den bitteren Beigeschmack, als müsse sich die Wirklichkeit für eine weitere Pointe und eine schönere Story gefügig machen. Geholfen ist damit letztlich niemand anderes in der Welt als Frieda. Ein fragwürdiges Ethos des Dokumentarischen. Spätestens, wenn die Rettungsaktion selbst zu einem weiteren Kapitel im Film wird, muss man die Frage stellen dürfen, was eigentlich das Dokumentarische am Dokumentarfilm ist.

48. Internationales Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm
3. bis 9. Oktober 2005www.dok-leipzig.de
Fotos: DOK Leipzig
1. Die große Stille
2. The Giant Buddhas
3. Workingman’s Death
4. Beneath The Stars


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