Geballte Kinoerfahrung: „L\’homme du train”, ein Film von Patrice Leconte (Benjamin Stello)

Das zweite Leben des Monsieur Manesquier
(L’homme du train)
Frankreich 2002, 90 Min.
Regie: Patrice Leconte
Drehbuch: Claude Klotz
Darsteller: Jean Rochefort, Johnny Hallyday, Isabelle Petit-Jacques, Edith Scob.

Kinostart: 24. November 2005

Fotos: Alamode
Amerikanischer Western
trifft französischen Konversationsfilm

117 Jahre Filmerfahrung konnten die drei Hauptbeteiligten von L’homme du train in ihre erste gemeinsame Produktion aus dem Jahre 2002 einbringen, die nun den Weg in die deutschen Kinosäle findet. Hierzu beigetragen haben 31 Jahre des Drehens von Regisseur Patrice Leconte, bekannt durch Les spécialistes (Die Spezialisten) oder La fille sur le pont (Die Frau auf der Brücke), 46 Jahre des Spielens von Jean Rochefort, Darsteller unter anderem in Le fantôme de la liberté (Das Gespenst der Freiheit) und Pr?t-a-porter, sowie 40 Jahre im filmischen Rampenlicht von Johnny Hallyday, eher bekannt als Sänger populärer Musik, aber ebenfalls kinoerfahren. Alle drei Männer sind also nicht gerade jung, und die in diesen langen Zeiträumen gewonnene, keineswegs negative Routine ist L’homme du train deutlich anzumerken, wie auch die Erfahrung aller Beteiligten mit dem Medium Kino dem entstandenen Werk zugute kommt.

Hallyday verkörpert Milan, den in der französischen Originalversion titelgebenden Mann aus dem Zug – der unsägliche deutsche Titel erscheint dagegen weder passend noch angemessen. Mitten in der Woche steigt Milan in einer französischen Kleinstadt irgendwo in der Provinz aus dem Zug, und sein erster Weg führt in eine Apotheke, wo der vom Leben bereits mehr als deutlich Gezeichnete Aspirin ersteht. Dort trifft er den pensionierten Lehrer Manesquier (Rochefort), lässt sich von diesem einladen und lernt ihn so näher kennen. Schnell ist klar, dass nur drei Tage vergehen werden, bis beider Leben sich radikal ändern wird: Milan fragt, ob er „bis zum Samstag“ bleiben dürfe, was ihm von Manesquier auch mit der Bemerkung zugestanden wird, er habe selbst einen wichtigen Termin an diesem Tage. Auch die eigentlichen Absichten des Besuchers bleiben kaum im Dunkeln, wenn er beim Auspacken seines Koffers als erstes drei Revolver in die Schublade legt. Was aber dann tatsächlich passiert, ist viel nebensächlicher als der Weg dorthin, auf dem der alternde Outlaw und der gealterte Intellektuelle ein Stück weit miteinander gehen werden.

Seit Clint Eastwoods mit vielen Oscars ausgezeichnetem Unforgiven (Erbarmungslos) vom Anfang der 90er-Jahre hat es keinen reinen Western mehr im Kino zu sehen gegeben, weshalb die Geschichte des Genres – einiger schwacher epigonaler Werke zum Trotz – mit diesem „Spätwestern“ als beendet angesehen wird. Leconte zitiert nun nicht nur Handlungsmuster des Westerns, sondern auch viele dessen typischer Gestaltungselemente und schafft somit etwas, das als Neowestern bezeichnet werden kann. Man mag in Rochefort und Hallyday durchaus einen James Stewart und John Wayne aus Howard Hawks‘ El Dorado wiedererkennen, dazu gibt es zahlreiche, über die Handlung verstreute Hinweise, etwa auf die aus Sergio Leones Once upon a time in the West (Spiel mir das Lied vom Tod) bekannte Mundharmonika. Der Zuschauer bekommt einen geplanten Banküberfall ebenso geboten wie ein Duell-Finale, das technisch durch Schnitt und Gegenschnitt geprägt ist, wenn auch hier auf der Schwundstufe durchgeführt. Diese und noch viele weitere Motive des klassischen Westerns (so wird u.a. aus dem Treck-Überfall hier ein Einbruch in die häusliche Idylle und der Saloon erscheint durch eine Brasserie ersetzt) verbindet Leconte nun aber mit dem oft als typisch französisch bezeichneten Konversationsfilm: Beide Hauptfiguren lernen in ihrer Interaktion neue Seiten an sich kennen, und durchaus nicht ausschließlich plakativ wie in den Szenen, als der Lehrer zum ersten Mal in seinem Leben eine Pistole ausprobiert und der schweigsame Outlaw dafür ebenso zum ersten Mal Pantoffeln als Sinnbild der häuslichen Sesshaftigkeit anziehen darf oder Gedichte liest. Aus der Melange beider Genres erwächst in L’homme du train etwas genuin Neues: Ein Film nämlich, in dem der Zuschauer mit den zwei Hauptfiguren langsam, aber sicher warm wird, bis schließlich ein echtes Mitleiden ermöglicht ist. Leconte findet wunderbar passende Bilder für diesen Prozess, zum Beispiel, als der unstete, nie ein Zuhause habende und natürlich Zigaretten rauchende Milan plötzlich und ganz nebenbei den Tabak einer Selbstgedrehten in einen Pfeifenkopf entleert und dieses Symbol häuslicher Gemütlichkeit genießt.

Wenn die Technik und die Ausstattung betrachtet werden, wird klar, dass in L’homme du train diese sonst leider viel zu häufig übersehenen Bereiche ein großes Lob verdienen. Dem Kameramann Jean-Marie Dreujou gelingen streng durchkomponierte und stimmige Bilder in einer sehr passenden Umgebung, in welcher jedes Detail am richtigen Platz zu sein scheint. Das wird besonders deutlich an der Ausstattung des Wohnzimmers, in dem auf einen ohnehin schon spießigen Teppich zur weiteren Verdeutlichung noch ein abgenutztes Tigerfell platziert wird. Auch das Haus des Lehrers ist alt, sichtbar gemacht durch abbröckelnden Putz und schadhafte Wände, aber es ist mit Würde alt und korrespondiert daher stimmig mit den beiden in ihm agierenden Mimen, auf die das gleiche zutrifft. Darüber hinaus scheint auch Dreujou die Bildsprache der einschlägigen Western zu kennen: Die Einführung Milans durch diverse Untersicht-Einstellungen aus der Froschperspektive, die diesen noch bedrohlicher, zugleich aber auch älter erscheinen lassen, ist aller Ehren wert. Schließlich ist auch die Musik auf der Tonspur zum Film passend und etwas mit Country-Motiven angehaucht, wenn auch nicht weiter bemerkenswert.

Folgen Spannungsbogen und Figurenkonstellation weitgehend den vom Genre Western vorgegebenen Mustern, wird das dazu mit klugen Dialogen, großartigen und in ihren Rollen aufgehenden Schauspielern verkörpert, kommt schließlich noch unaufgeregt zum uramerikanischen Genre der europäische Autorenfilm als Ergänzung hinzu, kann etwas ganz Großes entstehen. Über weite Strecken ist dies auch der Fall. Leider endet der Film aber nicht an seinem schon durch eine Schwarzblende markierten eigentlich stimmigen Ende, sondern hängt noch zwei reichlich überflüssige Minuten an, da zum amerikanischen Genre offensichtlich selbst in Europa noch ein amerikanisches happy-ending gehört. So entlässt der Film seine Zuschauer nach eineinhalb großartigen Stunden und zwei diesen Eindruck teilweise wieder zerstörenden Minuten recht, aber nicht ganz zufrieden in die Realität des Alltags zurück.

Trotz dieser Einschränkung ist L’homme du train ein wirklich guter und auch gut gemachter Film, der zu Recht beim renommierten Festival von Venedig im Wettbewerb lief, dort sogar den Publikumspreis gewonnen hat und zu Unrecht drei Jahre lang auf Eis lag, bevor er nun endlich 2005 in die deutschen Kinos kommt.(Benjamin Stello)

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